Barriere im Kopf

Behindertenbeirat und Sozialministerium zur Situation der Behinderten

  • Wilfried Neiße
  • Lesedauer: 4 Min.

Ist es vorstellbar, dass ein Augenarzt dem Sehbehinderten den Zutritt zu seiner Praxis verweigert, weil der von einem Blindenhund geführt wird? Einem Blindenhund, wohlgemerkt, den ihm eben dieser Augenarzt verschrieben hat. Wenn Ärzte auf dem flachen Land keine Hausbesuche mehr unternehmen können, weil der Aufwand für sie zu hoch wird, dann sind wieder Behinderte die ersten Leidtragenden. Von fehlender Barrierefreiheit beim Zugang zu Arztpraxen ganz zu schweigen.

»Ich wage nicht die Behauptung, dass behinderte Menschen völlig von medizinischer Betreuung abgeschnitten sind«, sagte die Vorsitzende des Landes-Behindertenbeirats Marianne Seibert am Dienstag in Potsdam. »Es wird aber schwieriger.« Viele Schwerbehinderte, die das Bett hüten müssen, »bekommen dann keine medizinische Behandlung mehr, die ihnen gerecht wird«. Als gestern Sozialminister Günter Baaske (SPD) die Umsetzung des Maßnahmenpakets für die Verbesserung der Situation behinderter Menschen - beschlossen von der rot-roten Landesregierung 2011 - vorstellte, musste er einräumen, dass keineswegs alles in wünschenswerten Bahnen verläuft. Allerdings konnte er auf eine Reihe von positiven Ansätzen verweisen. So sei beispielsweise in Behörden und Schulen nun gesichert, dass ein Dolmetscher hörbehinderten Menschen bei der Verständigung zur Seite stehe. So ist für Absolventen von Förderschulen jetzt nicht mehr die Behindertenwerkstatt der einzige Weg, einen Beruf zu erlernen. Sie könnten nun auch ganz regulär den Beruf des Gärtners oder Elektrikers ergreifen. Für 4,7 Millionen Euro habe die Landesregierung 1300 Schulabsolventen in der Berufsorientierung erfasst mit dem Ziel, den Werkstattbesuch möglichst zu vermeiden. Allerdings musste Baaske hinzufügen, dass das Erlernen der Berufe das eine sei, die Übernahme in tatsächliche Beschäftigungsverhältnisse außerhalb der geschützten Werkstätten, wo ihm zufolge Tausende arbeiten, aber die Ausnahme. Die Beispiele dafür könne man »an einer Hand abzählen«. Dabei handle es sich um motivierte Angestellte. Menschen mit Einschränkungen könnten ein »Segen« für jeden Unternehmer sein.

Landes-Behindertenbeaufragter Jürgen Dusel unterstrich, das Thema Behinderung sei keineswegs nur eines der Schulen und des Bildungswesens. Nur etwa ein Zehntel der Betroffenen hätten diese Behinderung schon als Kinder und Jugendliche, die weitaus größte Zahl erwerbe sie im Laufe des Lebens - »das heißt, nach der Schule«. Er hatte das Beispiel mit dem Blindenhund genannt, dem der Zugang verwehrt blieb. Ein solcher Hund dürfe als Hilfsmittel des Menschen aber überall hinein, in Arztpraxen, Kaufhallen und auch Mensen. »Dort darf er sich natürlich nicht über das Salatbuffet hermachen.«

Derzeit geht die Landesregierung von rund 500 000 Behinderten aller Grade und Altersstufen im Land Brandenburg aus. Unterschiedliche Angaben zu diesem Thema erklärte Dusel damit, dass vor allem psychisch Kranke nicht selten darauf verzichten würden, den entsprechenden Ausweis zu beantragen. Nach der Regel: »Wir sind zwar psychisch krank aber nicht behindert.« Laut Baaske muss das Land Jahr für Jahr rund 20 Millionen Euro mehr für die Betreuung von Menschen mit Behinderung bereitstellen. Inzwischen liege die Gesamtsumme bei 340 Millionen Euro. Wenn die Eltern behinderter Menschen nun auch 60 oder 70 Jahre alt geworden sind, »dann trauen sie sich die bislang geleistete Pflege und Betreuung einfach nicht mehr zu«, erklärte er die Steigerung. Ein weiterer Grund sei auch das wachsende Durchschnittsalter der Gesellschaft. Wenn Menschen länger leben, dann wachse auch die Wahrscheinlichkeit einer Behinderung. Baaske kritisierte die kommunale Ebene, aber auch die Wohlfahrtsverbände für ihre Reserviertheit dem Thema gegenüber. Da heiße es immer nur, das Land müsse zahlen. Doch könne er immer wieder auch erfreut zur Kenntnis nehmen, dass Bürgermeister wissen, was sie ihren Einwohnern schuldig sind.

Zu den Dingen, die nicht »abgearbeitet« seien, zählte der Minister die ungenügende Zahl behindertengerechter Wohnungen. Beim Thema Mobilität, Infrastruktur und Zugänglichkeit gebe es Reserven. Beiratsvorsitzende Seibert mahnte eine Interessenvertretung der Behinderten im Rundfunkrat an. Bei der Ablehnung dieses Ansinnens in der Vergangenheit habe es immer geheißen, das würden die Gewerkschaften übernehmen - »aber das ist falsch«, betonte sie. »Wir wollen nicht, dass man über uns spricht, sondern mit uns.«

Den Worten des Landes-Behindertenbeauftragten Dusel zufolge gelte es, »Barrieren in den Köpfen« abzubauen. Eine Behinderung sei eben nicht immer mit dem Gebrauch eines Rollstuhls verbunden. Behinderten müssten in den Stand versetzt werden, »ihre Rechte auch nutzen zu können«.

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