Land und Bände voll Stimmen

Die Frankfurter Buchmesse 2013 ist Geschichte

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.
Das Papier hat ausgedient. Die Krise des Buchmarkts durch die Digitalisierung des Lesens - die Sau, die jahrelang durch das Dorf getrieben wurde, das diese Messe ist - scheint inzwischen, da vieles längst digital ist, kein Schwein mehr zu interessieren.

Das Papier hat ausgedient. Weil es überhaupt keinen Grund gibt, Ausstellerverzeichnisse und Programmbücher durch die Messehallen zu schleppen, wenn alle Informationen auch mit einem Fingerstreich auf dem Smartphone zur Verfügung stehen. Und das Papier ist unersetzlich. Weil ich Clemens Meyers Roman »Im Stein« nicht auf dem »Tatsch-Screen« lesen will. Das ist ein Buch von Gewicht und muss es bleiben. Man kann das anders sehen, bitteschön. »Im Stein« als E-Book konsumieren? Wer das tut, spart Gepäck. Gut für den Rücken, schlecht für den Kopf. Und schlechter noch fürs Archiv: Ins Regal zu den Büchern stellen, die länger bleiben sollen als eine Marketingsekunde, einen Zeitungstag, eine Verlagssaison, kann man ja keine Datei.

Die Krise des Buchmarkts durch die Digitalisierung des Lesens - die Sau, die jahrelang durch das Dorf getrieben wurde, das diese Messe ist - scheint inzwischen, da vieles längst digital ist, kein Schwein mehr zu interessieren. Außer Sascha Lobo. Der hat mal wieder ein revolutionäres Projekt unterm roten Iro ausgeheckt: »Sobooks«, kurz für »Social Books«. Das sollen als Websites verlegte Bücher sein, die schon beim Lesen kommentiert werden können. Das beste an der Idee ist, dass sich die Diskussionsfunktion mit einem Klick ausschalten lässt.

»Stilistik, Dramaturgie, Sound – über nichts anderes will ich mehr reden an diesem Ort.« Clemens Meyer, Autor

Keiner hat auf dieser Buchmesse so leidenschaftlich auf dem Unterschied zwischen Kunst und »Twitterplapperwortmüllhalde« (Dietmar Dath) beharrt wie Clemens Meyer. Eine »unglaubliche Unverschämtheit« sei es, wütete der heisere Leipziger, »dass Leute sich anmaßen zu beurteilen, was Literatur ist. Nur der Künstler darf selektieren: Ich nehme dieses und jenes und breche es durch die große Salzmühle der Kunst.« Meyer hatte zudem die halb voyeuristische, halb distanzierte Art sichtlich satt, in der immerzu auf »das Milieu« angesprochen wurde, das in seinem Roman zu einer Welt überm, unterm, im Stein der Großstadt schwillt. Wenn sie Huren meinen, fragen Journalisten nach »diesen Menschen«. »Was heißt hier ›diese Menschen‹?«, zürnt Meyer. Es sind Menschen. Menschen mit jeweils ganz eigenen Träumen, Wünschen, Zwängen. Menschen zudem, die er, der Schriftsteller Clemens Meyer, in harter Knochen- und Hirnarbeit erdacht hat, seine Wort- und Fleischgeschöpfe, die »von uns« erzählen, »von unserem Leben, unserer Gesellschaft«. Würde die Buchmesse ihren Gegenstand ernst nehmen, so Meyer - es wäre über die Sprache zu sprechen! »Stilistik, Dramaturgie, Sound - über nichts anderes will ich mehr reden an diesem Ort.«

»Gespräche mit einem Künstler, der was zum Sagen hat«, schreibt Hans-Dieter Schütt im Vorwort zu seinem Dialogband mit dem Regisseur Andreas Dresen, »sind Gespräche über das, was dieser Künstler gesagt hat - aber was er gesagt hat, es muss erst so werden, wie es im Buche steht: Der O-Ton kommt aus anderen Welten als das Wort aus Buchstaben.« Es ist das Dilemma jeder Buchmesse, beide Welten unter ein Dach zwängen zu müssen. Und so sind O-Ton und Buchwort hier allerorten beim Versuch zu belauschen, sich halbstundenweise zu vereinen. Stimmen, Stimmen, überall Stimmen. An Ständen, auf Bühnen, Podien, im Gastlandpavillon, den Brasilien unter dem Motto »Ein Land voller Stimmen« lakonisch gestaltet hat. Und all die Stimmen auf Papier. Beim Gespräch mit Sven Regener auf dem Blauen Sofa spricht Moderatorin Luzia Braun von ihrem Eindruck, in diesem Herbst seien auffällig viele »Dialogbücher« erschienen.

Von Meyer also zu Schmidt: Nach seiner »Herr Lehmann«-Trilogie hat Sven Regener einer zentralen Figur daraus ein eigenes Buch gewidmet: »Magical Mystery - Die Rückkehr des Karl Schmidt«. Ganz anders, viel leichter als Meyers »Im Stein«, das seinerseits als »Panoptikum der Stimmen« bezeichnet wurde. Sven Regener, dessen Romane von der wörtlichen Rede leben, erzählt diesmal vom Übergang eines fünfjährigen Psychiatrie-Aufenthalts in eine anarchische Techno-Odyssee. Oder, in seinen Worten: vom »Ausbruch aus dem betreuten Leben«.

»Abenteuer geht ja nicht ohne Gefahr. Sonst hieße es Pauschalreise.« Sven Regener, Autor

Die Depression - bei Buchpreisträgerin Terézia Mora ist sie »Das Ungeheuer« - heißt bei Regener »das dunkle Gefühl«. Wie viel Heiterkeit noch in Abgründen aufblitzen kann, ist in diesem Buch zu entdecken, einem Abenteuerroman voller Fallen. Regener auf dem Sofa: »Abenteuer geht ja nicht ohne Gefahr. Sonst hieße es Pauschalreise.« Luzia Braun fragt den Autor nach den »hyperrealistischen« Dialogen - wie schreibt man das? Regener: Wie, wenn man mit sich selber Schach spielt. Man läuft ums Brett und reagiert auf den überraschenden Spielzug seines Gegenübers.

Martin Walser, dessen jüngstes Buch »Die Inszenierung« auch ein Sprechbuch ist, verzichtet auf Anführungszeichen - aus Prinzip, wie er in einem Messegespräch erklärt hat. Regener findet das okay. Warum er selbst die Gänsefüßchen verwendet? »Ich mach's den Leuten eben nicht so gerne schwer beim Lesen.«

Einer, der es seinen Lesern schwer macht, also hohe Konzentration einfordert, ist der New Yorker Autor Mark Z. Danielewski, dessen Roman »Das Fünfzig-Jahr-Schwert« jetzt in der deutschen Übersetzung von Christa Schünke erschienen ist. Von Dietmar Dath, der Danielewskis Buch in der »FAZ« bespricht, erfahren wir über den Autor: »Die Klaviatur der jüngeren Literaturgeschichte leuchtet unter seinen Fingern: Seine mehrfarbigen Anführungszeichen etwa erzeugen eine Vielstimmigkeit, die an Antiphon von Djuna Barnes anschließt, und öffnen Klammern, die ans spaltenweise Beiseitesprechen bei Arno Schmidt erinnern.«

Und Brasilien, das »Land voller Stimmen«? Hat den vielleicht zu erwartenden Samba-Sonnen-Einklang erst gar nicht mitgebracht. Literarische Linien des Landes waren im Pavillon und auf Lesungen aufzunehmen, der in Wutwellen aufschäumende soziale Wandel in Diskussionsrunden nachzuvollziehen. Wenn der Fußball zur Sprache kam, fiel wiederholt das Wort vom »Straßenköter-Komplex«. Der vor Jahrzehnten vom Schriftsteller Nelson Rodrigues geprägte Begriff fängt das nicht nur im Sport durch die Zeiten spukende Minderwertigkeitsgefühl eines Landes ein, dessen Aufstieg seit Längerem voran-, doch längst nicht zum Abschluss kommt. In einem Interview über die »Poesie des Fußballs« sprach Luiz Ruffato von den Menschen in Brasilien, die nicht in Büchern von sich reden machen können, »weil ihnen die Bildung fehlt, weil das Bildungssystem miserabel ist. Deshalb ist der Fußball für viele die einzige Möglichkeit, die Emotionen zu erleben, die auch in der Literatur stecken.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal