Präsidentenwahl und Paprikaschmuggel

Zeitunglesen über georgische Politik im Nachtzug von Tbilissi nach Jerewan

  • Lennart Lehmann, Tbilissi
  • Lesedauer: 7 Min.
Der Zug von Tbilissi nach Jerewan fährt die ganze Nacht. In den gemütlichen Wagen kann man bequem liegen und vor den Präsidentenwahlen am Sonntag in aller Ruhe Zeitung lesen.

Tbilissi, legendäre Hauptstadt Georgiens, eine multiethnische Metropole: Griechen. Armenier. Aserbaidschaner. Juden. Russen. Tscherkessen. Osseten. Und natürlich Georgier. Die verfallende Altstadt mit ihren romantischen Cafés bringt europäische Bohemiens zum Träumen. Von den umgebenden Bergen bietet sich ein großartiges Panorama der Stadt: Kirchen, Moscheen, der Fluss. Gegenüber der Palast des Präsidenten.

Auf dem Rustaweli-Boulevard Prunk, Pracht und Gold. Verkehrschaos. Auf dem Agmaschenebeli-Boulevard flaniert man wie in Wien oder Budapest. Vielleicht besser. Am Bahnhof das Lumpenproletariat. Vor ihm ein riesiger Gemüsemarkt in endlos langen Katakomben, darunter ein noch größerer Kleidermarkt. Kinder rauchen ihre ersten Zigaretten in der Anonymität der Masse.

20.20 Uhr, Bahnhof Tbilissi

Der Wagenaufseher des Nachtzugs, ein temperamentvoller 50-Jähriger, stellt sich vor und fragt nach meinem Namen. »Du kommst aus Deutschland? Kannst du mir ein Auto mitbringen? Ihr habt doch Geld!«

Dann verteilt er die Bettwäsche. Alle Liegen sind belegt, hauptsächlich mit älteren Frauen. Unter den Liegen kann man Gepäck verstauen. In diesem Fall sind sie randvoll mit Obst und Gemüse. Der Zug fährt ab. Her mit der ersten Zeitung!

Hauptthema in georgischen Medien ist die Präsidentenwahl. 23 Kandidaten gehen ins Rennen, eine weitere Episode im Machtkampf zwischen Premierminister und Milliardär Bidsina Iwanischwili und dem derzeitigen Präsidenten Michail Saakaschwili, zwischen Iwanischwilis Partei Georgischer Traum und Saakaschwilis Vereinter Nationaler Bewegung (UNM). Diesmal schicken sie ihre Vertreter gegeneinander. Georgi Margwelaschwili, Kandidat des Georgischen Traums, liegt nach einer Umfrage des US-amerikanischen National Democratic Institute vorn. David Bakradse, Kandidat der UNM, müsste also 20 Prozent gutmachen.

Premierminister Iwanischwili bleibt angeblich Georgiens beliebtester Politiker. Er hat allerdings angekündigt, nach den Wahlen am 27. Oktober zurückzutreten und sich aus der Politik zurückzuziehen. Damit wolle er, so zitiert der englischsprachige »Georgian Journal«, seine Partei als Ganzes stärker in den Vordergrund rücken.

20.40 Uhr im Zug

Der Wagenaufseher sammelt die Fahrkarten ein. Ein japanischer Rucksacktourist hat seine verloren. Problem! »Denn«, so der Eisenbahner, »ich kann hier keine Tickets ausstellen. Ohne Ticket kommst du nicht über die Grenze nach Armenien.« Er ersinnt einen Plan: »Steig am Grenzbahnhof Sadakhlo aus, nimm ein Taxi, fahr über die Grenze, und auf der armenischen Seite in Ayrum steigst du wieder ein. Da kann ich dir ein Ticket verkaufen!«

Die georgischen Medien polemisieren heftig gegen Russland. Gegen Putin. Gegen die russische Armee. Gegen das »Imperium«. Spricht ein Ausländer Georgier an, antworten sie ihm gerne auf Englisch, ungern auf Russisch, selbst wenn sie kein Englisch können. Georgische Medien nennen Russland oft den »Drachen«.

Nochpräsident Saakashwili hatte zuletzt bei Teilen der Bevölkerung im Südkaukasus an Sympathie gewonnen, nachdem er vor den Vereinten Nationen eine Brandrede gegen Russland gehalten hatte. Darin schob er dem mächtigen Nachbarn die alleinige Verantwortung für die andauernden Konflikte um Bergkarabach, Abchasien und Südossetien zu. Direkter Anlass der Anklage waren Barrieren und Stacheldrahtzäune, die die russische Armee entlang der Grenze zwischen Südossetien und dem restlichen Georgien hochzieht. In den Dörfern Ditsi und Dvani mussten Anwohner ihre Häuser räumen. Dann wurden die Gebäude abgerissen, weil sie sich angeblich auf der »Roten Linie« befanden. Georgien protestierte. Auch die USA äußerten sich »beunruhigt«. Russland breche damit internationales Recht.

Die Führung Südossetiens hatte die Provinz 2008 für unabhängig erklärt, nachdem sie sich russische Protektion gesichert hatte. Darüber kam es im August 2008 zu einem Krieg zwischen Georgien und Russland. Nur Russland und vier weitere Staaten haben die Unabhängigkeit bisher anerkannt. Präsident Saakaschwili wird von vielen Georgiern, wie auch von der EU, für den Krieg verantwortlich gemacht. In dessen Folge verlor Tbilissi vollends die Kontrolle über nahezu 20 Prozent seines Territoriums. Saakaschwili hatte sich Beistand aus dem Westen erhofft. Aber der bittere Krieg zeigte den Georgiern, dass sie gegen Russland nicht mit militärischem Eingreifen der NATO oder der USA rechnen können.

22.35 Uhr, Sadakhlo

Am georgischen Grenzbahnhof steigen der japanische Rucksacktourist und sein Freund aus. Der Wagenaufseher erklärt ihnen zum zehnten Mal seinen Plan. Die Japaner haben aber kein georgisches Geld. Ein deutscher Tourist steckt ihnen etwas zu, mit umgerechnet etwa zehn Euro kann man 50 Kilometer Taxi fahren. Grenzpolizisten kommen und interessieren sich für das Problem des Japaners. »Warum hast du ihn ohne Ticket mitgenommen?«, fragt ein Grenzpolizist den Eisenbahner. »Er kann doch seinen Freund nicht alleine fahren lassen!« protestiert der. »Ach so. Warum verkaufst du ihm kein Ticket?« Gegenfrage: »Habt ihr denn Tickets hier?« Die Grenzpolizisten schütteln den Kopf. Die Japaner eilen in die Dunkelheit des Bahnhofvorplatzes auf der Suche nach einem Taxi.

NATO Generalsekretär Rasmussen forderte Russland erneut auf, die Anerkennung Südossetiens zurückzunehmen, schreiben die Zeitungen. Die EU unterstützte per Erklärung die territoriale Integrität Georgiens. Aber politische Analysten wie der Armenier Stepan Grigorjan sprechen schon seit Jahren von den »faktischen Staaten Republik Karabach, Südossetien und Abchasien«.

Die größten Herausforderungen für den neuen Präsidenten und den neuen Premier werden innenpolitische sein, schreibt ein amerikanischer Kolumnist. Probleme in Georgien gibt es viele: Armut, klar. Soziale Ungleichheit. Georgien ist ein Land mit einer großen Diskrepanz zwischen Arm und Reich. Saakaschwilis radikale Liberalisierungspolitik hatte der Bevölkerung bessere Chancen verheißen, wirtschaftlich aufzusteigen. Wer sich anstrenge, der könne etwas werden! Doch reiche Familien kontrollieren den Zugang zu hochwertiger Bildung, besserer Gesundheit und wichtigen Ressourcen.

23.40 Uhr, Ayrum

Der Zug ist gemütlich über die Grenze gezuckelt. In Ayrum wieder: Grenzpolizei und Zoll. Niemand darf aussteigen. Die armenischen Zöllner schauen in die Kisten unter den Liegen. »Na, Mariam, was hast du heute dabei?«, fragt einer der Zöllner. Man kennt sich. Nur eine kleine Plastiktüte mit ihren Sachen? Gut. Dann entdeckt der Zöllner 20 Kisten sortierte Paprika. Sie gehören einem alten Mann. Der Zöllner wird laut. »Für den persönlichen Gebrauch? Die kann man doch hervorragend verkaufen!« Der Zöllner lässt den Mann eine Zollerklärung ausfüllen. »Was für ein Fang! Ein Paprikaschmuggler«, kommentiert eine Frau ironisch.

Ein Dauerbrenner in den Zeitungen sind Landdispute. Das »Georgian Journal« schreibt, dass sich die Regierung Saakaschwilis Ländereien im Wert von drei bis vier Milliarden Euro angeeignet habe, die entweder in Staatsbesitz oder in privaten Besitz übergegangen seien. Staatsanwaltschaft und die Regierung Iwanischwili zeigen sich mit der Wiederherstellung der Landrechte überfordert.

00.40 Uhr, Ayrum

Der Zug fährt weiter. Die Japaner sind nicht gekommen. Der Wagenaufseher empfindet das als persönliche Niederlage. Er vermutet, dass die Japaner mit den zehn Euro abgehauen sind. Zehn Euro sind in Georgien für viele immerhin ein Tagesgehalt. Die ausländischen Touristen bezweifeln das. »Vielleicht ist ihnen was passiert?« Der Eisenbahner macht eine abschneidende Handbewegung: »Das ist jetzt passiert und das ist jetzt vorbei!« Alle gehen wieder zu ihren Liegen. Der Schlaf bemächtigt sich der Fahrgäste.

Im Gegensatz zu den letzten Parlamentswahlen sehen internationale Beobachter gute Chancen, dass die bevorstehende Abstimmung in Georgien fair und transparent verlaufen wird. Sie beobachten eine weitaus ausgewogenere Berichterstattung in den Medien und weniger Schmutzkampagnen, Hetzartikel und Hassaufrufe als bei den Parlamentswahlen vor einem Jahr.

6.30 Uhr im Zug

Der Wagenaufseher weckt die Passagiere. »In 20 Minuten sind wir in Jerewan!« Alle falten ihre Bettwäsche zusammen und bringen sie dem Wagenaufseher.

Entgegen ersten Befürchtungen in Teilen der Bevölkerung und des Westens änderte Premier Iwanischwili nach seinem Wahlsieg 2012 nicht die westliche Orientierung Georgiens. Ein Abkommen über die Umsetzung eines »umfassenden Freihandelsabkommens« (DCFTA) mit der EU will Georgien im November im litauischen Vilnius unterzeichnen. Möglicherweise erhofft sich Tbilissi durch eine Annäherung an die EU, dass Abchasien und Südossetien dann einen größeren Anreiz haben, sich Tbilissi wieder anzuschließen.

6.55 Uhr, Jerewan

Kaum steht der Zug, bricht Hektik aus. Die Reisenden holen unter den Liegen kistenweise Obst und Gemüse hervor. Kakifrüchte, Zitronen und Paprika. Draußen warten junge Männer in schwarzen Lederjacken, die die Kisten eilends zum Gemüsemarkt direkt neben dem Bahnhof tragen. Ein paar Paprika fallen beim Transport auf die Straße. Kinder sammeln sie auf und tragen sie den Männern nach.

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