nd-aktuell.de / 25.01.2000 / Politik / Seite 11

In Zauber-Haft

Hans-Dieter Schutt

Ohne Selbsthass kommt niemand aus. Auch nicht im Theater. Peter Handkes »Publikumsbeschimpfung« (skandalumwittert uraufgeführt 1966 von Claus Peymann in Frankfurt am Main) ist kein Drama, sondern eine heftige, bissige, Publikumsverhalten genau beschreibende Rede. Schauspieler zu ZuschöUeril.‹ ›»Sie1 sind nicht abendfüllend.« Rhetorik-1‹› attackiert das traditionelle Theaterverständnis von Oben und Unten, von Illusion und Technik. Im BE nun: ein freundliches Remake.

Kein Stück am Stück also, der Bühnenboden eine weite Wüste aus Knüllpapier. Die Dramatik, letzte Weißheit, freudig mit Füßen getreten. Regisseur Philip Tiedemann lässt zunächst atemberaubend die gesamte Bühnentechnik einen Tanz des Selbstzweckes tanzen, das hebt und senkt sich, dröhnt und zischt, blendet und hallt. Und dann zelebriert ein Männerquartett 70 Minuten lang den Hohn der theatralischen Absagen - und freilich: Nicht die Provokation zieht in den Bann, sondern der Witz und die Klugheit, mit der verteiltes Rollenspiel, also Theater (!), betrieben wird. Am Mikrofon, in der Seitenloge, am schwingenden Seil überm Publikum.

Was Tiedemann (bisher) anfasste, er hob sich mühelos in eine frappierend freche Leichtigkeit des Scheins. Bei ihm kann man die Geduld mit dem Theater, die wir alle auf irgendeine Weise verloren haben, plötzlich wiederfinden. Inmitten verfestigter Fronten zwischen Bühnenmenschen und Feuilletohisteri, die doch beide nur nach einem Ausdruck ihrer Müdigkeit suchen, feiert dieser junge Regisseur das verfeinerte Spiel an der Schau-Spiellust. Die bricht nicht aus, sondern ist in Zauber Haft genommen. Es ist, als habe sich die vielgeschmähte Virtuosität, diese Feindin alles Lebendigen auf der Bühne, einen Liebhaber gegriffen, der ein junges Herz hat - und siehe da: Aus Virtuosität wird Zauber, und der Schrecken, der über allem liegt, über dem Leben und über der Kunst, der ist bei Tiedemann immer der blasseste Mitspieler.