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Verdachtspersonen

Ein Mauerstück und die Solidarnosc-Wirklichkeit Von Julian Bartosz, Wroclaw

  • Lesedauer: 4 Min.

Beim Ausladen der Fracht waren Vertreter des Landesausschusses der Solidarnosc wie auch prominente Politiker der gleichnamigen Wahlaktion (AWS), Repräsentanten der Stadtverwaltung und der Kirche zugegen. Die der Begrüßungszeremonie zufällig zuschauenden Passanten erblickten einen riesigen Betonklotz, grau und etwas brüchig: ein großes Stück der Berliner Mauer - ganz ohne störende Graffitis.

Wie es hieß, ist dieses Stück noch größer als jenes Mauerfragment, das der ehemalige USA-Präsident Ronald Reagan als Geschenk bekam. Die Solidarnosc erhielt ihr «Symbol des internationalen Einflusses unserer Auflehnung gegen den Kommunismus» - so wird das bezeichnet - aber nicht umsonst. Sie hatte dafür den Preis von einer Mark zu entrichten.

Just zu gleicher Stunde stellte im Plenarsaal des Parlaments Innenminister Marek Biernacki dem Hohen Haus eine Regierungsvorlage zur besseren und er folgreicheren Bekämpfung der anwachsenden Kriminalität vor. Danach soll die Polizei mit neuen Pflichten und Vollmachten ausgestattet werden. Bei ihrer «operativen Tätigkeit» gegen «Verdachtspersonen» soll sie befugt sein, verschiedene zusätzliche Daten geheim zu sammeln und zu speichern. Dieser Zusatz soll folgende Einzelheiten umfassen: den genetischen Code der Verdachtsperson, sein persönliches Bankkonto, seinen Familienstand, seine politische Überzeugung, sein Glaubensbekenntnis und zu guter Letzt seine sexuelle Einstellung.

Die Vorlage, die heftige Kritik des Bündnisses der Demokratischen Linken (SLD) und eines Teils der Freiheitsunion (UW) auslöste, wurde in einer nächtlichen Abstimmung bei Abwesenheit von drei Vier teln der Abgeordneten zur weiteren Bear beitung in den Innenausschuss delegiert, statt - wie es die Opposition forderte - gleich in der ersten Lesung abgelehnt zu werden. SLD-Redner wiesen in der Debatte darauf hin, dass die «Demokraten von der Wahlaktion Solidarnosc genau das wieder haben wollen, was das Sicher heitsamt ÜB in der schlimmsten stalinistischen Zeit >zur Bekämpfung der Gegner des Sozialismus< in den persönlichen Dossiers von Verdachtspersonen (VP) sammelte». Unter «politische Überzeugung» sei nichts anderes als Parteizugehörigkeit zu verstehen, hinter dem «Familienstand» verbergen sich Angaben über das Privatleben, beim «Glaubensbekenntnis» gehe es darum, ob der Verdächtige beispielsweise einer anderen Sekte als der einzig richtigen, also der Römisch-Katholischen Kirche, angehört, und schließlich wolle man bei der sexuellen Orientierung wissen, ob die VP homosexuell ist.

Der extrem klerikale AWS-Abgeordnete Libicki fügte dem von Biernacki gewünschten Katalog die Forderung hinzu, alle Anwärter auf das Präsidentenamt, die sich am 8. Oktober zur Wahl stellen, sollten nach ihrer Meinung zu Homosexuellen befragt werde. Ob sie beispielweise eine Ehe oder das Kinderadoptionsrecht für Lesben und Schwule akzeptieren würden. Die Homosexuellen stören nämlich nicht nur die polnischen Pilgerfahrten in Rom, sondern sie seien überhaupt Pädophile! So etwa ließ sich vor wenigen Wochen Minister Jerzy Kropiwnicki während einer UNO-Konferenz zum Thema Gleichberechtigung vernehmen und stimmte gemeinsam mit Delegierten Irans und anderer fundamentalistischer Staaten gegen die Konferenzentschließung.

Durch derart «pro-katholisches» Ver halten will sich die in den Popularitätskeller fallende AWS die Unterstützung von Kirche und Klerus sichern. Derlei dem «einfachen Volke» sympathische Handlungen gibt es neuerdings öfter. Der neue AWS-Justizminister Lech Kaczynski möchte die Todesstrafe wieder einführen und überhaupt die Strafgesetze verschär fen. Auf der anderen Seite versucht die Solidarnosc, die Leute mit der vor drei Jahren versprochenen «Eigentumsstreuung» zu ködern und den Menschen das zu schenken, was Kommunen und Wohnungsgenossenschaften gehört.

Übrigens sollen jetzt endlich - vor den «Jubiläumsfeiern anlässlich des 20. Jahrestages der Solidarnosc-Gründung» - alle Sonnabende arbeitsfrei werden. Was sich die Epigonen des Arbeiterprotestes vom August 1980 noch alles einfallen lassen, ist kaum vorauszusagen, fest steht aber, dass ihre Wunderwaffe gegen die

Linke, das «Lustrationsgesetz», ihrem größten Helden Lech Walesa Kopfschmerz bereitet. Vor der «Durchleuchtungskammer», wo ihm seine Loyalitätserklärungen und zwei Quittungen für Mitarbeit zu Gunsten des Sicherheitsdienstes SB präsentiert wurden, erklärte der gewesene Elektriker, das sei eine von den «alten Diensten» vorbereitete Provokation. Er selbst - wie er kürzlich in Czestochowa sagte - sei «das Salz dieser Erde»!

In der «Jubiläumsausstellung» zum Solidarnosc Jahrestag, so mokiert man sich in Polen, müsse außer der Berliner Mauer auch ein Stück von jenem Zaun gezeigt werden, den Walesa seinerzeit im August angeblich übersprang, als er sich dem Streik der Schiffbauer anschloss.

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