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Großmann und Hellenbroich im Streitgespräch

  • Lesedauer: 4 Min.

Der Verrat wird geliebt, aber nicht der Verräter. Mit dieser Weisheit aus dem antiken Rom konfrontiert, nickten bejahend Werner Großmann, letzter Chef der Hauptverwaltung Aufklärung der DDR, und Heribert Hellenbroich, ehemals Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, gleichermaßen. Das sollte aber denn auch fast der einzige Punkt sein, an dem sich die Meinungen der Kontrahenten trafen. Der Moderator des Streitgesprächs in der Berliner Volksbühne aiilässlich der Präsentation des Buches von Großmann »Bonn im Blick« hatte es nicht schwer. Die beiden Ex-Geheimdienstler spielten sich die Bälle zu in Rede und Widerrede. Werner Sonne, Hauptstadtkorrespondent der ARD, brauchte keine Sorge zu haben, dass die Debatte einschlafen könnte. Das zahlreich er schienene Publikum, darunter viele Insider, trug mit Zustimmung bzw. Empörung zur Spannung bei.

Hellenbroich beklagte die weitläufige Ansicht, dass die HVA der erfolgreichere deutsche Geheimdienst gewesen sei und der Bundesnachrichtendienst nur ein Verein von »Schlafmützen und Hampelmännern«. Großmann konterte mit einer (sogar unvollständigen) Namensaufzählung: Klaus Kuron, Hans-Joachim Tiedge, Adolf Kanter (im Bundesverfassungsschutz), Gabriele Gast und Alfred Spuhler (im BND). Die einzig relevante Trumpfkarte, die sein Gegenpart da ziehen konnte, war der Überläufer Werner Stiller. Da wohl dies auch ihm zu mager erschien, meinte Hellenbroich noch, dass die Arbeit eines Geheimdienstes in einer Diktatur wesentlich leichter wäre als in einer Demokratie, in der Menschenrechte zu beachten seien. Damit erntete er indes nicht nur Gelächter im Publikum, sondern auch erwartungsgemäß Einspruch von Großmann. Als dieser allerdings darauf ver wies, dass die für die HVA arbeitenden Kundschafter zu 60 Prozent aus politischen Gründen tätig waren, äußerte nun seinerseits Hellenbroich wieder starke Zweifel und erinnerte an Kuron sowie einst in »Romeo-Affären« verstrickte Sek retärinnen. Das klang in Großmanns Ohren ganz wie die Antwort eines Briefes vom 24. Oktober vergangenen Jahres vom Chef des Bundespräsidialamtes, in dem behauptet worden war, dass »nicht wenige der Täter (HVA-Agenten) keineswegs aus innerer Überzeugung, sondern aus materiellen oder anderen privaten Gründen gehandelt haben«. Großmann kannte die Mehrheit der HVA-Spitzen-Quellen und wohl auch deren Beweggründe. Dass die DDR-Aufklärung durchaus auch nichtpolitische Motive zu nutzen verstand, bestreitet er nicht. In seinem Buch beschreibt er Muster der Anwerbung, u. a. die Werbung »unter fremder Flagge«.

Die Positionen beider Gesprächspartner näherten sich an der Stelle des Gesprächs an, als es um die Ungleichbehandlung der Ost- und West-Spionage nach der Vereinigung ging. Hellenbroich verteidigte die Regelung des »Unrechtsbereinigungsgesetzes«, die in der DDR verurteilte Westspione großzügig entschädigte, gab aber zu, dass im Allgemeinen recht unfair mit ehemaligen DDR-Eliten und DDR-Bürgern nach 1990 umgesprungen worden sei. Großmann kritisierte scharf die Praxis der Strafverfolgung der inoffiziellen und hauptamtlichen Mitarbeiter der Aufklärung und Abwehr. Er selbst war am Tage des »Beitritts« verhaftet worden. Das Verfahren gegen ihn und andere HVA- Mitarbeiter vor dem Berliner Kammergericht und der daraus abgeleitete Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht wurde zu einem Kernpunkt späterer verfassungsrechtlicher Entscheidungen. ?In der Volksbühne berichtete Großmann auch von einem Schreiben, das er im September vorigen Jahres an das Bundeskanzleramt mit der Bitte um Beendigung der Stasi-Hysterie geschickt habe: »Nicht einmal eine Eingangsbestätigung haben wir erhalten«.

Einig waren sich beide Geheimdienstler in der Bejahung der Frage, ob die Arbeit ihrer Dienste notwendig sei. Hellenbroich begründete dies u. a. mit aktuellen Konfusionen in der westlichen Allianz hinsichtlich eigenmächtiger US-Aktivitäten. Großmann verwies darauf, das nicht von ungefähr über 40 Jahre Frjeden in Europa herrschte: »Ein Jugoslawien-Krieg wäre undenkbar gewesen«. In seinem Buch resümiert der letzte HVA-Chef darüber hinaus: »Wir wissen schon, wie es sich nach der Auflösung der Geheimdienste lebt.« Zugleich schreibt er den heute noch in diesem Metier Agierenden seine Erkenntnis ins Stammbuch: »Ignorieren die Politiker die Realität, verliert jede geheimdienstliche Arbeit ihre Bedeutung.«

Verständlich, dass Großmann auf die Frage des Moderators nach noch nicht entdeckten Kundschaftern nur die Ver mutung äußerte, dass mittlerweile alle enttarnt seien, wovon auch Hellenbroich ausgeht. Zur Operation »Rosenholz« konnte oder wollte Großmann nichts sagen. In seinem Buch rechnet er hart mit Verrätern aus den eigenen Reihen und devoten Anbiederungsversuchen bei bundesdeutschen Behörden und Gerichten ab. Die nach 1990 massiv in die Öffentlichkeit lancierten Behauptungen über die Quellenübergabe an den KGB nennt er Fiktion bzw. eine - wie im Fall des Kundschafters Dieter W. Feuerstein - mit Hilfe eines Verräters aus der HVA vom Verfassungsschutz organisierte Aktion.

Interessante Einblicke vermittelt Großmanns Buch auch in das Denken und Fühlen von MfS-Mitarbeitern in den Monaten der Agonie der DDR. »Wir sind ver strickt in Parteiräson, Parteidisziplin und in die Angst vor persönlichen Nachteilen, eingebunden in die starren Strukturen, Teil des Ganzen, letztlich aber isoliert vom Ganzen. Trotzdem glauben wir unver drossen an den Fortbestand der DDR.«

In einiger kritischer Distanz steht Großmann zu seinem Vorgänger Markus Wolf: »Wir geben uns ungeachtet dessen noch die Hand. Wir haben beide unsere politischen Überzeugungen nicht an der Garderobe abgegeben.«

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