Hausaufgaben im Kerzenlicht

Stromsperre, Streit mit Energieversorger und Jobcenter: Besuch bei einer Berliner Familie im Ausnahmezustand

  • Benjamin Beutler
  • Lesedauer: 7 Min.
Wegen offener Rechnungen wurde der Strom gesperrt - nun muss eine hochschwangere Frau ihr Leben unter widrigen Umständen organisieren.

Es dämmert in Berliner Prenzlauer Berg. Ginge das Zimmer von Malina F.* nicht zum Hinterhof, dann könnte die Drittklässlerin an lauen Herbstabenden zur breiten Prenzlauer Allee hinaus schauen. Den braunen Pferdeschwanz nach links, mit Blick zum Alexanderplatz, würde das Mädchen vom dritten Stock aus den Fernsehturm mit seiner riesigen blitzenden Diskokugel sehen.

Für die meisten Berliner sind Sonnenuntergänge im Herbst der Auftakt zu einer bunt schillernden Lichtshow. Wochenlang glänzen alte und neue Prestigebauten und Vorzeigeplätze in aufwändigen Lichtinstallationen. Hotelmagnaten und Einkaufsstraßenbetreiber lassen es sich einiges kosten, die Hauptstadt ein wenig wie Las Vegas zu erleuchten. In der Vorweihnachtszeit geht das optische Spektakel weiter: Glitzerlichter überall.

In Malinas Mietskasernen-Kinderzimmer dagegen ist es abends schon seit etlichen Wochen düster. Wegen nicht bezahlter Stromrechnung geben die Steckdosen keinen Saft, bleiben die Lampen an Decken, Wänden und Schreibtisch aus. Wie Roboter ohne Batterie verteilen sich Waschmaschine, Kühlschrank, Handy, Radio, Laptop und Fernseher nutzlos auf die kleine Drei-Zimmer-Wohnung. Nur draußen, beim Klingelschild im Hauseingang, klickt in der Abenddämmerung eine kleine 1,2-Watt-Birne an.

Mit einem lauten Summen springt die Tür auf. Im Vorderhaus Berliner Ambiente wie zur Kaiserzeit. Gleich um die Ecke, nur ein paar Schritte weiter, geht das Schickimicki-Leben zwischen Wasserturm und Kollwitzplatz seinen gutbürgerlichen Biedermeier-Gang. Nach ein paar Schritten über den Hof, vorbei an Müll und Tonnen, noch eine Tür mit Summer. Abgewetztes Linoleum empfängt den Besucher im engen Hinterhausflur. Tastend findet die suchende Hand einen Schalter. Ab dem ersten Stock funktioniert das Licht. Nach drei Etagen, beim Eintritt in den finsteren Korridor der Familie F., müssen sich die Augen an das spärliche Licht von Stummelkerzen und Teelichtern gewöhnen, die überall verteilt sind.

Eva F. ist hochschwanger. Die gelernte Kosmetikerin sitzt mit durchgedrücktem Rücken vor einem Stapel Briefe; leicht drückt der pralle Bauch gegen die hochklappbare Tischplatte. Ihren Namen und den ihrer Lieben möchte sie nicht preisgeben. Auch die Gesichter auf den Fotos sollen nicht erkennbar sein. »Ich habe keine Lust auf Gerede, nee, lass mal lieber.«

Auf dem Tisch in der kleinen Küche liegt eine gut sortierte Mappe. Wie zum Beweis der eigenen Unschuld zieht Eva F. im Kerzenlicht ein Schreiben des Berliner Energieversorgers Vattenfall hervor. Die Sache scheint vertrackt zu sein. Seit Jahren wohnt Eva hier zur Untermiete. Der Hauptmieter, ein netter Kerl, will seine Wohnung im beliebten Szeneviertel Prenzlauer Berg nicht abgeben. »Der Strom ist in meiner Monatsmiete mit drin«, dachte die schwarzhaarige Untermieterin immer. Was sie nicht wusste: Der nette Kerl hatte die Post von Vattenfall nicht geöffnet - auch er glaubte wohl, die Sache gehe ihn nichts an. Im Sommer dann der große Schock: Eine Rechnung von über 3000 Euro flattert in Evas Briefkasten.

»Das habe ich erst mal nicht geglaubt, ich wusste überhaupt nicht, was ich tun soll«, erinnert sie sich an das mulmige Gefühl von damals. So viel Geld hat sie nicht; es auf einen Schlag aufzutreiben war für sie ein Ding der Unmöglichkeit. »Na ja, und vielleicht habe ich mich nach dem Brief einfach zu wenig gekümmert«, räumt Eva ein. Die für ihre Verhältnisse riesige Summe habe sie geradezu gelähmt.

Im August, mitten im Hochsommer, wird der Familie der Strom abgedreht. Eva ist jetzt Mitglied in einem traurigen Klub - Hunderttausenden Menschen wird jedes Jahr zwischen den Alpen bis zur Ostsee Jahr für Jahr der Stecker gezogen. Kein Gesetz verhindert bisher die Kappung der lebensnotwendigen Energie.

Energiearmut ist die neue Sorge der deutschen Unterschicht. Sie spielt sich außerhalb der Öffentlichkeit ab, ungesehen, leise. Nicht zu übersehen ist dagegen, dass die Wohnung ohne Licht der Enddreißigerin spürbar unangenehm ist. Freunde einzuladen ist ihr peinlich, und auch Tochter Malina bekommt kaum noch Besuch von ihren Schulfreundinnen. Traurige Ruhe ist in die Hinterhauswohnung eingezogen. Bei Nachbarn um Strom zu betteln kommt für Eva nicht in Frage: »Ein Nein möchte ich mir ersparen.«

Seit Malinas Geburt vor acht Jahren ist die trotz Schwangerschaft schmale Berlinerin alleinerziehend. Arbeit hat sie nicht, vom mittellosen Vater Malinas hören beide selten. Das Jobcenter springt ein. Monatelang kümmert sich Eva um ihre kranke Mutter. Diagnose: Krebs im Endstadium. Nach ihrer Beerdigung vor zwei Jahren hat Eva selbst mit Ängsten zu kämpfen. Geht zum Psychologen, und kriegt die Kurve. Als Opfer widriger Umstände, das ist ihr wichtig, sieht sich die Hartz-IV-Empfängerin nicht.

»Meine Zahlungsbereitschaft«, sagt sie, »habe ich Vattenfall nach dem Irrtum immer wieder klar gemacht.« Aber guter Wille allein bringt den Strom nicht wieder zum Fließen. Ohne Geld ist Schluss mit lustig. Zum Kampf mit dem Schuldenberg ist längst der tägliche Kampf um den Stromanschluss hinzugekommen. »Dass so schnell gekappt wird, das hätte ich nicht geglaubt. Jedenfalls habe ich danach wie wild herumtelefoniert«, erzählt Eva. Ihr Handy lädt sie irgendwo anders auf; in der Endphase der Schwangerschaft kann das Telefon eine Lebensversicherung sein.

Bei der Vattenfall-Hotline kann erst niemand die Nummer ihres Stromzählers im System finden. Die Bearbeitung ihres Falls dauert, dann ist von Verbrauchsschätzung die Rede. Aber von welchem Messgerät? Auch ein Foto vom schwarzen Drehzähler, das Eva an die Rechnungsstelle schickt, hilft nicht weiter. Verbrauch und Kosten stimmten offensichtlich nicht, waren um ein Vielfaches zu hoch, meint Eva und sucht in ihren Unterlagen. Einen Mitarbeiter vorbeizuschicken, der das Zählerwirrwarr in Keller und Wohnung aufklären könnte, damit wieder Licht in die Wohnung kommt, lehnt die unverbindliche Stimme am anderen Ende der Telefonleitung ohne Begründung ab.

Zwei Wochen sitzt Eva ohne Strom zu Hause, dann ein Hoffnungsschimmer. Nach viel Hin und Her, nervenzehrendem Warten in der Callcenter-Warteschleife und Besuchen in der Vattenfall-Kundenzentrale, wofür sich die Hochschwangere »mehrmals durch die Stadt« schleppt, rechnet das Unternehmen noch einmal nach, diesmal mit der richtigen Zählernummer. Tatsächlich, neu taxiert schuldet die Familie in Stromnot nur noch rund 1800 Euro. Endlich ein gute oder wenigstens eine erträgliche Nachricht. Der Blackout aber ist damit nicht vorbei.

Eva schreibt einen neuen Brief an das Vattenfall-Kundenzentrum. Sie stolpert wieder über einen Fallstrick der Bürokratie. »Kunden« vom Jobcenter bleibt das Abstottern von Schulden so gut wie immer versagt. Berlins Energieriese lässt sich jedenfalls auf keine rettende Ratenzahlung ein: »Ihr Zahlungsvorschlag bedeutet für uns, dass wir auf einen Ausgleich unserer Forderung zu lange warten müssen.« Das Serviceteam verbleibt im Brief »mit freundlichen Grüßen«. Die wenig freundliche »Versorgungsunterbrechung«, so die Umschreibung für ein Leben ohne Licht, geht weiter.

Inzwischen ist es Spätsommer, fast schon Herbst. Unaufhaltsam werden die Tage jetzt kürzer. Wenn überall die Straßenlaternen aufleuchten, fragt sich Eva manchmal, was sie falsch gemacht hat. Sie hat Hilfe gesucht, doch niemand leiht ihr das fehlende Geld; eine Summe, die immerhin ihrer Grundsicherung für fast ein halbes Jahr entspricht.

Auch das Jobcenter kennt kein Nachsehen. »Dem Antrag auf die Übernahme von Energierückständen kann nicht entsprochen werden«, stellt der Ablehnungsbescheid trocken fest. Selber schuld, wenn sich die Mieter nicht darum gekümmert haben, ihre Rechnungen zu begleichen, so die Argumentation. Ein Notdarlehen verweigert die Behörde ebenfalls. Ist den Amtsdienern nicht klar, dass hier eine Frau kurz vor der Entbindung mit batteriebetriebener Halogen-Stirnlampe in der Wohnung herumläuft, um Babykleidung, Windeln und Cremes in die Schränke zu räumen? Dass sie Milch nicht kühlen kann und schlechte Lebensmittel ein Gesundheitsrisiko für Mutter und Kind sind? Beim Blick in den Schlafzimmerspiegel müssen alle laut lachen. Zu komisch sieht Eva aus, wie eine Höhlenforscherin in Hausschuhen. Es ist auch ein Lachen der Verzweiflung.

Sicher, der Mensch kann sich mit fast allem arrangieren. Ihre Hausaufgaben erledigt Malina wie selbstverständlich neben dem Kerzenständer. Wäsche wird bei Freunden gewaschen. Und immerhin, in der Liebe läuft es für Eva wieder einmal besser. Jorge, ein Musiker aus Paraguay, ist frisch verliebt eingezogen. Mit ihm, dem Vater ihres zweiten Kindes, soll alles besser werden. Er schleppt die Kleidersäcke treppauf, treppab.

»Bei uns haben selbst die Ärmsten Strom, nur Leute auf dem Land ohne Stromkabel sitzen noch im Dunkeln«, erzählt Jorge aus seiner Heimat und wundert sich über die deutschen Verhältnisse. Das soll eines der reichsten Länder der Erde sein? Jorge schüttelt den Kopf. Nur wenige Tage noch, dann erblickt sein Sohn das Licht der Welt. Man muss dem Kleinen, der noch im Mutterbauch ist, schon den Erfolg eines Sozialanwalts wünschen. Der hat im Eilverfahren Einspruch gegen die Ablehnung des Jobcenters eingelegt.

*Alle Namen wurden geändert.

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