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Weltweite im Unterholz

Der Waldgänger Peter Handke und sein »entdeckerisches Verirren«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Wald rauscht, Blätter fallen. Richtig. Absolut falsch! Wer Peter Handke liest, der empfindet plötzlich, welch ein erbarmungswürdiges, hilfloses und lebensnervbeschnittenes Wesen die Sprache ist - dann, wenn sie gar nicht mehr Sprache sein darf, ein Worte-Schatz also, sondern die Worte nur noch im Sprach-Gebrauch sind. Eingesperrt in gängigste Kombinationen, von denen es heißt: klar, verständlich, auf den Punkt gebracht. Also vernichtet.

Klar und verständlich heißt: Wald rauscht, Blätter fallen. Aber die Eichen rauschen, während bei den Buchen eher ein Brausen zu bemerken ist, die Birken wiederum rascheln, und während die Ahornblätter im Sturz- und Gleitflug niederjagen, erhalten Blätter anderer Bäume im Augenblick der Bodenberührung seltsame Auftriebe, wie ein letztes Atemholen, und die Fächer der Akazien fallen wie … »aber geht und seht selber!«

Es gibt keinen Dichter deutscher Sprache, der Natur in solch wahrhaft ein-flüsternder Weise zum Ereignis erheben kann. Auch in diesem »Versuch über den Pilznarren«. Handke schrieb bereits »Versuche« über die Jukebox, die Müdigkeit, den geglückten Tag und den Stillen Ort; den Anfang machten oft Orte, die Großstadt oder stille Gegenden, da begann ein Weg, eine Reise, eine Um-Schau des Erzählers; Prosa vorbeigängerisch, nicht frontal. Enklavenphilosophie. Und das 1989/90, da Europas Geistmenschen im Getöse- und Einmischfieber wuselten, meinungsbefeuert, geschichtsgeladen, eingriffsinfiziert, zungenfertig ohn’ Unterlass. Handke wurde trotzig und erhaben malerisch. Genius der Abkehrfreude.

In einem seiner »Versuche« schrieb er vom »entdeckerischen Verirren« - einer umkreisenden Erzählweise, die auch aufs Wesen des neuen Versuchs über den Pilznarren zutrifft. Schönes Bedrängtsein durch eine Seh-Weise, in der seit eh und je Zeit und Schwelle und Gehen und Sphäre und Verwandlung und Niemandsland, ja: was? Herrschen? Nein. Es gibt Worte, die können nicht herrschen, so, wie die Feststellung falsch ist, dass Frieden herrsche.

Der Pilznarr, ein engagierter Anwalt vor internationalen Gerichtshöfen, erinnert sich bei einem seiner Waldspaziergänge an die Pilz-Suchleidenschaft der Kindheit. Daraus wächst eine Sammelsucht, die Beruf und Familie bedroht und den Verstand belagert mit Einladungen zum Wahn.

Der Pilz als Gleichnis. Er ist die »letzte Wildnis«, das »letzte Abenteuer der Menschheit«, er lässt sich »nicht züchten, nicht zivilisieren«. Eine Protest-Pracht. Ein Anlass, um sich zu relativieren - denn oft genug hatte er als Anwalt »in eine todfalsche Mitte gezielt, ob als Redner vor Gericht oder als Artikelschreiber, der sich einbildete, wie einst Emile Zola Geschichte machen zu können«. Dem Anwalt wird die Pilznarrheit zur Dämonie, die ihn verfolgt, einschnürt. Ihn zu einem Verschollenen macht. Am Ende aber sein Wiederauftauchen, seine Rückkehr ins alltägliche Maß, eine Heilung von der Obsession - wodurch? »Malt euch das alleine aus«, kontert der Dichter.

Der Autor-Erzähler begibt sich gleichsam auf die Suche nach seinem Freund, dem Pilznarren, und beide werden am Ende - da ist das Buch endgültig im Mythischen, im Märchen angekommen - gemeinsam feiern. Was? Die Weltflucht ins Unterholz ebenso wie die Hinwendung wieder zum Leben.

So, wie sich in Handkes Stück »Untertagblues« der Beschimpfer der Welt nichts so sehr wünschte wie Einsamkeit - um sich am Ende aber (aus Angst vor der ersehnten Einsamkeit!) die Elenden seiner Schimpfiade wieder herzuwünschen. Das gesamte Zivilisationspersonal, die Nachbarschaftskrieger, die Lichtungsbesetzer, die sehnigen oder klapprig-trotzigen Lebensdurchmarschierer, die Zeit- und Raumdurchblicker, die Gesetzeskenner und Antwortabonnenten, die unter Weltverstehen nur eines meinen: Leben auf der klügeren Seite eines Widerspruchs, dort, wo man sich durch Wahrnehmungen nicht aus der Ruhe einer einzigen Wahrheit bringen lässt.

Handkes Poesie tanzt im Widerspruch: Von hier nach da, ohne dort anzukommen. Was sich zwischen Natur und dir abspielt, es gilt für Existenz überhaupt, gleichsam quer durch die Welt: Du bist ein Gesteigerter, wenn du den Blick der Dinge auf dir ruhen fühlst. So entfaltet sich auch diese Erzählung in einen tief anrührenden Gegenentwurf zum Schicksal jenes Menschen, der tagtäglich von der Welt vernutzt, missverstanden, geprüft und so ins notwehrveranlasste Blindwüten getrieben wird. Handke preist das schöne Ereignis, irgendwie unverwendbar zu werden fürs Nützliche. Huldigung des Übergangs »vom achtlosen Hinschauen zum achtsamen Betrachten«. Schönes Leben, ehrgeizlos, aber ehrvoll - weil: so natürlich.

Worte finden? Nein, von ihnen überrascht werden; dem Überraschungswort im nächsten Satz ins Wort fallen; sich hinter einem Komma in Nebensätze verlieren wie in einen Wald; den Seitensträngen eines Gedankens nachgeben; freudig oder verzweifelnd verästelt bleiben; einen Gedankenstrich zu Hilfe holen, ein Semikolon dazwischen gehen sehen und sich wundern, woher plötzlich die Fragezeichen kommen; dann einen Punkt machen - um daraufhin einen Doppelpunkt alles wieder für offen erklären zu lassen. Bewahrungsgefühl. Wanderempfinden. Weltweite im Unterholz des Daseins.

So könnte man die Confessio dieses Dichters wohl zu fassen versuchen: einverstanden damit sein, ergriffen zu werden. Von aller Kreatur. Sogar vom Menschen. Der aufblickt und sich von einem Vogelschwarm gesegnet wähnt. Und der Blick hinab zum Pilz ist ein Aufschauen.

Peter Handke:
Versuch über den Pilznarren. Suhrkamp Verlag. 120 S., geb., 17,95 €

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