Grass: Merkel ist politisch feige

Literaturnobelpreisträger rät der SPD von Großer Koalition ab und wirbt für Asyl für Edward Snowden

  • Matthias Hoenig
  • Lesedauer: 3 Min.

nd: Was sind Ihre Erwartungen an die sich abzeichnende große Koalition?
Grass: Ich kann der SPD und ihren Mitgliedern nur raten, nicht in diese große Koalition zu gehen - aus mehreren Gründen. Eine Regierungskoalition aus den beiden größten Parteien ist so übermächtig, dass für die Opposition praktisch gar keine Chancen mehr bestehen. Das läuft für mich auf eine Beschädigung unseres demokratischen Systems hinaus. Grüne und Linke haben so kleine Fraktionen, dass sie noch nicht einmal einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss beantragen können. Das ist schon abträglich. Und zum anderen: Union und SPD verlieren in einer großen Koalition mehr oder weniger ihr politisches Gesicht, ohne dass etwas wegweisend Neues dabei herauskommt.

Welche Alternative bietet sich denn an?
Eine Minderheitsregierung von CDU/CSU. Es gibt viele Länder in Europa, Demokratien, in denen das, wenn Wahlen so ausgehen, durchaus funktioniert. Wir haben in der zurückliegenden Legislaturperiode ja auch erlebt, dass in Europafragen die CDU/CSU von ihrem Koalitionspartner FDP zum Teil im Stich gelassen wurde, aber die SPD und die Grünen mit der CDU/CSU gestimmt haben, um bestimmte Positionen im Parlament durchzusetzen.

Gerade wird Ihr nach eigenem Urteil immer noch reizvollster, vor 50 Jahren erschienener Roman »Hundejahre« - Synonym für miserable Jahre im 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen, mit Nationalsozialismus und Kommunismus - in einer Sonderausstellung in Lübeck gefeiert. Wo steht Deutschland heute, drohen neue Hundejahre?
Wenn ich heute einen ähnlichen Romantitel suchen müsste, würde ich vielleicht »Drohnenjahre« wählen. (lacht)

Können Sie das bitte erklären?
Die Drohnen sind über uns, man hat den Begriff der Allgegenwärtigkeit aus dem Religiösen säkularisiert. Wir werden auf vielfältige Art und Weise überwacht, eine Methode ist der Einsatz von Drohnen, bewaffneten und unbewaffneten. Da tun sich schreckliche Szenarien auf. Wir sind immer im Blickfeld, wir sind Zielobjekte geworden.

Halten Sie Bundeskanzlerin Angela Merkel in der NSA-Affäre für zu gutgläubig, denn sie zeigte sich überrascht, von den USA abgehört zu werden?
Frau Merkel ist politisch feige. Sie ist nicht in der Lage, von der Souveränität der Bundesrepublik, die wir seit der Einigung haben, Gebrauch zu machen. Ich kann zum Vergleich nur erinnern an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), der, als es zum Irakkrieg der USA und ihrer Partner kam, nicht mitmachte. Er hat das begründet und Ärger auf sich genommen, auch mit den Vereinigten Staaten. Und Frau Merkel ist damals nach Washington gereist und hat ihn dort deswegen angeschwärzt.

Was halten Sie Bundeskanzlerin Merkel denn heute vor?
Sie müsste die Rechte aller Bürger schützen. Es dreht sich ja nicht in erster Linie um ihr abgehörtes Telefon, das ist nur ein Aspekt. Dass wir Bürger insgesamt abgehört und überwacht werden und zwar gegen unsere Verfassung und Rechtsprechung, das ist der Skandal.

Wie bewerten sie es, dass die Bundesregierung dem Whistleblower Edward Snowden kein Asyl in Deutschland gewähren will.
Auch das ist ein nachgeordneter Aspekt. Das Hauptproblem ist, dass man das transatlantische Bündnis vorschiebt. Für die Amerikaner ist das nicht wichtig. Sie übertreten Gesetze im eigenen Interesse auch auf Kosten ihrer Verbündeten, während Merkel zurückzuckt und nicht von der Souveränität Gebrauch macht. Die Kanzlerin schützt die Bürger nicht vor dieser Großbespitzelung.

Sollte Deutschland Snowden Aufenthaltsrecht geben?
Ich wäre dafür. Das muss dann allerdings mit entsprechenden Sicherheitsgarantien für Snowden verbunden sein. dpa/nd

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