nd-aktuell.de / 29.11.2013 / Politik / Seite 7

Wird der »Bloody Sunday« doch noch gesühnt?

Britischen Soldaten droht Mordanklage wegen Massakers in Nordirland vor 41 Jahren - Generalstaatsanwalt fordert Ende der Ermittlungen

Leon Kohl, Dublin
Die nordirische Polizei hat Zeugenbefragungen zum »Bloody Sunday« im Zuge von Mordermittlungen angekündigt. Bei dem Massaker 1972 wurden 14 unbewaffnete Demonstranten erschossen.

Wie die britische »Sunday Times« mit Berufung auf Polizeikreise berichtete, könnten bis zu 20 pensionierte Soldaten wegen Mordverdachts oder versuchten Mordes verhaftet werden. Am 30. Januar 1972 demonstrierten katholische Aktivisten bei einem nicht genehmigten Marsch für Bürgerrechte in der Bogside, einem nationalistischen Bezirk Londonderrys, der zweitgrößten Stadt Nordirlands, friedlich gegen die im August 1971 begonnene britische Internierungspolitik. Als sie sich weigerten, den Marsch zu beenden, eröffneten Soldaten des 1. Fallschirmregiments der britischen Armee das Feuer. 13 Demonstranten, sechs noch minderjährig, wurden getötet, 14 zum Teil schwer verletzt. Ein weiterer Demonstrant erlag viereinhalb Monate später seinen Verletzungen. Alle Opfer waren unbewaffnet; vielen wurde in den Rücken geschossen, als sie versuchten, sich in Sicherheit zu bringen oder Verwundeten zu helfen.

Die Ereignisse des »Blutigen Sonntags« führten zu einer Radikalisierung des Nordirlandkonfliktes: Drei Tage nach dem Massaker stürmten wütende Massen die britische Botschaft in Dublin und brannten sie nieder. Die Regierung in London löste das Parlament in Belfast im März 1972 auf und stellte Nordirland unter den direkten Einfluss der britischen Behörden.

Ein erster Untersuchungsbericht zum »Bloody Sunday« unterstellte, dass Mitglieder der IRA unter den Demonstranten das Feuer auf die Soldaten eröffnet hätten und entlastete die Armee. 1998 beauftragte Londons Premierminister Tony Blair im Rahmen von Friedensverhandlungen Richter Lord Saville mit einer erneuten Prüfung der Vorkommnisse. Sie wurde mit geschätzten Kosten von 200 Millionen Pfund und einer Dauer von zwölf Jahren die teuerste und längste Untersuchung der britischen Rechtsgeschichte. Der 2010 veröffentlichte Bericht stellte fest, dass die Schüsse auf die Demonstranten »ungerechtfertigt und durch nichts zu rechtfertigen« gewesen seien und dass einige Soldaten vorsätzlich falsche Angaben gemacht hätten.

Premierminister David Cameron entschuldigte sich bei den Familien der Opfer. 2011 bot London Entschädigungszahlungen für die Angehörigen an, die jedoch von einigen Opferfamilien kategorisch abgelehnt wurden. Die von ihnen geforderten strafrechtlichen Konsequenzen scheinen nun mit der Ankündigung von Zeugenbefragungen einen Schritt näher gerückt zu sein. Die nordirische Polizeibehörde spricht von »langwierigen und komplexen Ermittlungen«. Zeugen der Saville-Untersuchung sollen nun auch gegenüber den Ermittlern aussagen - die Erkenntnisse des Berichts sind juristisch nicht verwendbar, da man die Soldaten anonym befragte. Ihnen wurde zudem zugesichert, dass ihre Aussagen nicht für strafrechtliche Ermittlungen genutzt werden würden.

Laut führenden nordirischen Polizeibeamten könnte es aber zwölf Monate oder länger bis zu den ersten Vernehmungen dauern. Wie die »Sunday Times« berichtete, habe das britische Verteidigungsministerium dennoch bereits begonnen, Anwälte mit der Verteidigung von Ex-Soldaten in einem Prozess zu beauftragen. Frühere Spitzenmilitärs kritisieren die Ankündigung von Ermittlungen und warnten davor, dass beigelegte Konflikte wieder neu aufleben könnten. »Heute bewegt sich Nordirland vorwärts und man sollte auch nach vorne und nicht in den Rückspiegel schauen«, schreibt etwa der frühere Generalstabschef der britischen Armee, Lord Dannatt, der in den 70er Jahren in Nordirland stationiert war, im »Telegraph«.

Dass Soldaten, die mit ihren Aussagen zur Aufklärung beigetragen hätten und denen gleichsam Immunität zugesichert worden sei, nun ein Prozess drohe, bezeichnet die konservative »Daily Mail« als »grotesken Verrat«. Die Saville-Untersuchung liefere keinen klaren Beweis für Mord, sondern eher für »schlecht geführte Soldaten, die in Panik geraten sind und die Kontrolle verloren haben«.

John Kelly, dessen Bruder Michael im Alter von 17 Jahren am »Bloody Sunday« erschossen wurde, widerspricht Kritikern der Ermittlungen, denn für die Angehörigen der Opfer sei der Konflikt noch nicht beigelegt; sie hätten bis heute noch keine Gerechtigkeit erfahren. Er warf jenen, die eine Amnestie für die verantwortlichen Militärs fordern, vor, die »Mörder und das Verbrechen an sich« zu unterstützen.

Der aus Londonderry stammende Parlamentarier der Democratic Unionist Party (DUP) Gregory Campbell dagegen weist darauf hin, dass die britischen Truppen am »Bloody Sunday« nur in der Bogside gewesen seien, weil die IRA im Vorfeld über 100 Menschen ermordet und Zerstörungen und Unruhen verursacht habe. Im Rahmen des Karfreitagsabkommens 1998 seien Amnestien für IRA-Terroristen ausgesprochen und Häftlinge gegen den Protest von Opferfamilien entlassen worden. Heute nähmen frühere IRA-Terroristen wie der stellvertretende First Minister von Nordirland, Martin McGuinness, Spitzenposten in der nordirischen Gesellschaft ein. Es wäre eine »Perversität«, sollte die Amnestie nicht auch für britischen Soldaten gelten.

Andererseits lehnt die DUP die Forderung des nordirischen Generalstaatsanwalt John Larkin nach einem generellen Ende aller Ermittlungen, die sich mit Straftaten vor dem Friedensabkommen 1998 befassen, ab. Larkin betont, dass es seit dem Karfreitagsabkommen kaum Ermittlungserfolge gegeben habe und es Zeit sei, unter die Ereignisse des Nordirlandkonflikts »einen Strich zu ziehen«. Politiker der DUP verweisen jedoch darauf, dass heute noch etwa 3000 der mehr als 3500 Morde, die mit dem Konflikt in Verbindung stehen, nicht aufgeklärt seien und die Angehörigen ein Recht auf Gerechtigkeit hätten. Auch der britische Premierminister David Cameron distanzierte sich von Larkins Äußerungen und nannte es »ziemlich gefährlich«, die Aufarbeitung der nordirischen Vergangenheit durch die Justiz nicht weiter voranzutreiben.