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Die Wölfe studiert, dem Windbruch ergeben

Zum Tode der Dichterin Helga M. Novak

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Bäume, von denen sie schrieb, haben auf Sand gebaut. Sind privatisiert und dem Windbruch ergeben. Immerhin, sie »streicheln einander noch/ haben viel Liebe erfahren/ werfen noch Schnee ab/ bevor die Hinterwäldler/ sie brummend absägen«.

Ein Gedicht über Bäume. Wie ein Gespräch über Bäume - das aber nicht, wie bei Brecht, etwas Verderbliches hat. Denn es schließt nichts, gar nichts an Leben aus.

Helga M. Novak: die Waldgängerin. Sie ruft in Versen brüchigen Existenzboden auf, sie sieht den Zugriff des rigiden Besitzers auf allgemeine Güter, sie blickt auf das, was Stürme und Verwehungen übrig ließen, sie rettet sich immer wieder listig und leidenschaftlich in Erinnerungen an Bilder des Schönen. Wälder ohne Schonung - das ist ihr die Natur. Gegenden mit Lichtungen aber, die sie begierig durchs Gestrüpp des Lebenslaufes sucht. Und am Ende der Beobachtungen, immer und überall: jene Hinterwäldler und auch Hinterweltler, die sich leider vortrauen, mit ihrer Lizenz auf Machtgebaren. Und die uns ihre In- strumente zeigen. Entwicklung ist Absägen und Abgesägtwerden.

Die Existenz dieser Dichterin war in gewisser Weise stets eine Existenz draußen, im Nomadischen, im Unterwegs, im Unwegsamen, ein Leben gleichsam auf Ästen, an denen fortwährend gesägt wird - ein Leben aber auch dort, wo man doch täglich wider alles Erwarten auf einen grünen Zweig kommt, Da-Sein zwischen den Stämmen, aber nie auf den Holzwegen hin zu fester Ordnung und ordentlicher Festigkeit. So oft ohne Schutz. So oft frierend. So oft aussichtslos, und die Frage: »warum entdeckt denn keiner/ die Schönheit meines Verfalls?« Der Gedichtband »Silvatica« (1997) erzählt von ihrem wochenlangen »Verwittern« in polnischen Wäldern. Teile Europas hat sie zu Fuß bewältigt, sie war obdachlos und bei der Nahrungssuche »reißerisch wie eine Wölfin«; ihr lyrisches Herz und das Herz ihrer Prosa schlugen stets für die Gedemütigten, die Regengenässten, die Erben eines Kaspar Hauser und aller Mädchen mit den Schwefelhölzern. Medea beschwor sie als Opfer einer »gnadenlosen Gewalt von oben«.

Sie schrieb dissonant, schwungvoll aggressiv, archaisch. Im Liebesgedicht souverän dominant. Jägerin und Engel (»Vogel federlos«, »Legende Transsib«, »Märkische Feemorgana«). Eine Frau, entwurzelt und doch ganz bei sich: Ihre Dichtung ist ehrlich, bleibt also jenes Pfeifen, das just in Wäldern komponiert wird - als Grundmelodie einer Biografie, die sehr wohl um die Gründe weiß, Furcht zu bekommen und Furcht nie wieder zu verlieren. Und trotz aller Angst: so viel Lust auf die spontane, unmittelbare, bedenkenlose, emotional angetriebene Tat. Losgehen, weitergehen, durchs kalte Wasser gehen und durch die kalte Gesellschaft.

So ging sie auch durch die DDR-Gesellschaft. Ihre Sache war das nie: sich so zu verhalten, dass noch ein nachträgliches Schönreden möglich wäre. Sie verachtete jenes peinliche Beschwören einer kritischen Haltung, die nur einen Fehler hatte: Diese Haltung wurde einst, als es darauf angekommen wäre, leider von niemandem so richtig bemerkt. »Ich habe es in meiner Seele nicht zugelassen: einen Todesstreifen mit Schießbefehl - gerichtet gegen fliehende Gedanken.«

1935 wurde Novak in Berlin geboren. Ein Pflegekind: ungeliebte Adoptiveltern, ungeliebtes DDR-Kinderheim. Studium der Journalistik und Philosophie in Leipzig. 1957 Exmatrikulation: Obwohl doch beseelte junge Sozialistin, gelang ihr kein Einverständnis mit den notwendigen Verkrümmungen, und die inständigen Angebote, wie diese Verkrümmungen in eine heiter getragene Parteilichkeit umzudenken seien - sie schlug’s aus. Zu groß der verlangte Anteil an Selbstverleugnung. Ein Typus wie Brigitte Reimann oder Juliette Greco oder Irmtraud Morgner oder Ingeborg Bachmann. Attraktiv, frei im Begehren, lustvoll in ihrer Ruhelosigkeit, radikal in der Suche nach Rausch. Schwarz gekleidet, und: barfuß gehen, nicht im Strickstrumpf. Man nennt sie in Leipzig bald »die Isländerin«. Der enge Kontakt zu nordischen Studenten interessiert die Stasi. Island? Auch Geheimpolizei kann exotisch denken - Helga M. Novak unterschreibt einen Beschnüffelungsauftrag, ein Reflex ist das zwischen Angst und Befreiungsschlag. Natürlich beschnüffelt sie niemanden. Am Ende der kurzen politischen Affäre steht die Flucht in den Westen, mit dem isländischen Freund.

Aber in der fremden Sprache wird die Hochschwangere nicht heimisch. Wieder DDR. Arbeit am Fließband. Hoffnung auf Weiterstudium. Die Gründe, warum das nicht geht, sind ebenfalls ein Worte-Fließband, Novak ist nämlich damals, wie es im kürzlich erschienenen dritten Band ihrer Erinnerungen heißt: »ungebunden, unbeherrscht, unwillig, ungläubig, unhöflich, unzuverlässig, unverblümt, unzugehörig, unverantwortlich, ungehorsam, ungenießbar, unverbesserlich, undiszipliniert, ungezügelt, unberechenbar«. Aber dann doch: Literaturinstitut Leipzig. Ihr erster Gedichtband freilich, »Ballade von der reisenden Anna«, erscheint 1965 im Westen, mit Versen über das Land, in dem »Misstrauen und Spitzel / die hausgemachten Soßen würzen«. Zudem noch ein Verhältnis mit Robert Havemann! Das produziert Druck. Wie viel Extravaganz hält ein züchtiger Sozialismus aus? 1966 beantragt sie ein Visum für Island, ja, sie bekommt es, aber auch die Quittung: Entzug der DDR-Staatsbürgerschaft.

Was einem Wolf Biermann zehn Jahre später zur großen Feier werden darf, erlebt Helga M. Novak nicht. Denn sie ist rebellisch ohne Geltungsdrang, sie ist unbeugsam ohne medialen Begleitschutz, sie hat Charakter ganz allein, ganz still. Die alte Moral der Geschichte: Im Abseits kommen weder Preisgelder noch andere Ehrungen an. Jedenfalls nicht im Moment, da sie wichtig wären als Lebensbeistand. Im Herbst 2004 übrigens verweigerten die Behörden der »erwerbslosen Ausländerin« die Aufenthaltsgenehmigung für den Landkreis Leipzig. Der Bundespräsident muss einschreiten. Abkanzelung einer Unbekannten: ein deutsches Dichterinnenschicksal.

Über ihre Verstrickung in den Staat DDR, dessen lockende Idee und dessen finstere Sicherheitsnetze, schrieb Helga M. Novak im erwähnten dritten Teil ihrer Erinnerungen. Ein kopfschüttelndes Trauern: wie viel vertane Lebenskraft, unnütze Aufreiberei, wie viel vergebliche Opfer, auch auf Seiten der Gläubigen. Und nach dem ruhmlosen Ende des Ganzen: wie viel doch weiterhin an verbleibenden Gründen für Zorn auf die Welt. Gründe für Flucht und Verweigerung. Vor allem im Westen.

Das Memoiren-Buch heißt »Im Schwanenhals«. So nennt man eine Vogelfalle, aus der sich das Tier nur befreien könnte, wenn es sich den eigenen Fuß abbeißen würde. Vergleichbar dem Menschen, der Freiheit verwechselt mit Gefügigkeit - aber auf solche Weise überlebt. Indem er sich auf die Zunge beißt, die Wahrheit über sich selber schluckt, sich für die falsche Sache ein Bein ausreißt, für Ideologien die Hand ins Feuer legt. Angebote hierfür hält die Welt immer und überall bereit. Auch Helga M. Novak, rau und zäh und zart, hat solche Angebote wahrgenommen und ist dann immer schnell weggegangen. »wie viel Herzen habe ich pochen hören / Seelen keine und ich wünsche niemand / erlitte die Qual einer Art Herberge / meiner Seele zu werden solche / Strafe hat wirklich keiner verdient / mein Herz aber wird zerfallen schade«.

Am 24. Dezember ist die Dichterin im Alter von 78 Jahren nach langer, schwerer Krankheit in Rüdersdorf bei Berlin gestorben.

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