Zu Weihnachten war das Licht zurück

Die Philippinen nach Haiyan - Zuversicht statt Resignation

  • Daniel Kestenholz , Bangkok
  • Lesedauer: 4 Min.

Die größten Trümmerberge sind weggeräumt, der beißende Verwesungsgestank ist schwächer. Doch jeden Abend, wenn sich die Nacht über das zentrale Küstengebiet der Philippinen zu senken beginnt, werden Menschen nervös und verbarrikadieren sich in ihren behelfsmäßigen Behausungen.

Mehr als einen Monat nach dem Taifun Haiyan, der am 8. November weite Landstriche der Philippinen heimsuchte, bleibt die Stromversorgung größtenteils unterbrochen. Doch da und dort ist im weitgehend zerstörten Tacloban, wo einst mehr als 200 000 Menschen lebten, schwacher Lichtschein zu erkennen. Dank vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) verteilter Solarlampen müssen Menschen abends nicht mehr in absoluter Dunkelheit leben.

Wo vor wenigen Wochen noch verwinkelte Wohnquartiere standen, breiten sich jetzt erbärmliche Flüchtlingscamps aus - und wie überall in solchen Lagern haben auch die Menschen im philippinischen Katastrophengebiet Angst vor Diebstahl, Vergewaltigung, Menschenhandel und Gewalt.

Licht, besser der Mangel daran, ist eines der größten Probleme in den neu entstandenen Slums. »Ohne Strom begehen Menschen kriminelle Taten mit einem höheren Grad von Straflosigkeit«, erklärt Arjun Jain, UNHCR-Chef der Südphilippinen.

Die Zahl der tatsächlich begangenen Straftaten hält sich in Grenzen, doch die Angst davor ist weit verbreitet. Sobald es dunkel wird, verbarrikadiere sie sich mit ihrer Familie in der Hütte, die heute ihr Zuhause ist, sagt Mary Ann Ignacio, die in einem Küstendorf der Inselprovinz Leyte lebt. Sie sorge sich, dass das Wenige, das sie noch hat, gestohlen werde oder dass es Männer auf ihre Töchter abgesehen hätten.

Mary Ann schläft tagsüber. Nachts liegt sie hellwach, um ihre Familie mit Gebeten und Wachsamkeit zu schützen. Sollte jemand in die Hütte einbrechen, liegt eine Machete bereit. Die vom UNHCR verteilten Laternen sehen wie alte Campingleuchten aus. Die Solarzellen müssen für eine Ladung acht Stunden in die Sonne gestellt werden, auch Mobiltelefone können durch die Zellen aufgeladen werden.

Das Licht in der Nacht bringt den Menschen ein Gefühl von Normalität zurück. Zum ersten Mal seit den Verheerungen essen Menschen wieder nach dem frühen Sonnenuntergang. Kinder können länger spielen, und wer Arbeit hat, verrichtet sie bis in die Nacht, wie zum Beispiel Fischer, die Netze flicken oder aus Draht Hummerfallen fertigen.

»Familien sitzen länger zusammen, was sie sonst nicht tun könnten«, sagt Arjun Jain, und wenn Menschen ihre Mobiltelefone nutzen können, seien sie besser mit Verwandten in Kontakt. Unternehmer koordinieren ihre Geschäfte, Fischer wissen, welche Preise sie auf dem Markt erhalten können.

Seit Montagsbeginn wurden ein paar tausend der Lampen verteilt. »Ein Tropfen auf einen heißen Stein«, bekennt Jain. Die philippinische Regierung unter Präsidentin Benigno Aquino war bemüht, bis Heiligabend die meisten Gebiete zurück am Stromnetz zu haben. Energieminister Carlos Jericho Petilla sprach von einer »sehr knappen Frist« angesichts des Ausmaßes der Zerstörungen. Wenigstens zu Weihnachten sollten die Menschen in diesem hauptsächlich christlichen Land den schwierigen Alltag vergessen können.

Fast jede Familie in der Inselprovinz Leyte, wo 80 Prozent der Opfer lebten, hat jemanden verloren. Die genaue Zahl der Opfer ist noch immer unklar. Die Toten wurden seinerzeit von den Straßen geräumt und in Massengräbern beigesetzt. Unter weggeräumten Trümmern werden jedoch jeden Tag 20 bis 30 Leichen gefunden, auch im schwer beschädigten Tacloban.

Die Opfer wären im fortgeschrittenen Zustand der Verwesung einzig durch DNA-Proben zu identifizieren gewesen. Dazu aber fehlen die technische Ausrüstung und das Geld, weshalb die Zahl der Vermissten bei knapp 1800 stagniert.

Unlängst kletterte die Zahl der Toten über die 6000er-Marke, was Yolanda, wie der Wirbelsturm Haiyan auf den Philippinen genannt wird, zur opferreichsten Naturkatastrophe in der Geschichte des Landes macht. Yolanda zerstörte und beschädigte die Häuser von mehr als zwölf Millionen Menschen, vier Millionen wurden zu Flüchtlingen im eigenen Land.

Trotz der großen internationalen Hilfswelle wird der Wiederaufbau nach Behördenaussagen mindestens drei Jahre dauern. Doch statt Resignation macht sich in der Katastrophenregion Zuversicht breit. »Als ich nach Tacloban kam«, sagt der Fotograf Lorenzo Moscia, »stand der Schock den Menschen ins Gesicht geschrieben. Heute, wohin ich auch blicke, lachen die Menschen. Sie singen, während sie die Straßen aufräumen. Und sie danken mir und allen Ausländern für die Hilfe. Ich sage ihnen: Ich mache doch nur Fotos. Sie sagen, auch das helfe.«

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