Böllerslalom und freie U-Bahnplätze

An Silvester in Berlin scheiden sich die Geister

  • Lesedauer: 5 Min.
Zwischen den Jahren ist Berlin im Ausnahmezustand. Die einen fliehen, die anderen reisen begeistert an, um es an Silvester auf allen Ebenen krachen zu lassen. Ein Für und Wider.

»Böllerslalom und warmer Sekt: Silvester bitte ohne Stadt« meint Sarah Liebigt

Irgendwo auf Twitter meinte neulich jemand, Silvester in Berlin ohne Böller sei wie Käsesahnetorte mit Süßstoff. Manche Leute gebaren sich, als sei »Silvester ohne Böller« eine ähnlich ketzerische Forderung wie Currywurst ohne Currysoße. Das Problem ist einfach: Wie Halloween, Valentinstag und Ostern wird Silvester zur eigenständigen Jahreszeit erklärt.

Silvester ist nämlich eigentlich »der Tag des Jahres, 31. Dezember«, benannt nach »Papst Silvester I., dem Tagesheiligen des 31. Dezember« (siehe duden.de). Und nicht »die Zeit zwischen Weihnachten und dann, wenn Arbeit/Schule/Studium wieder losgeht«. Orientiert man sich an den seit Heiligabend krachenden Böllerexplosionen, dann ist jeden Tag, und zwar den gesamten Tag über, Silvester. Das erreicht seinen Höhepunkt am 31. Dezember.

Wer den Fehler begeht, in Berlin zu bleiben und nachmittags das Haus zu verlassen, der kehrt mit panischem Blick, mit Knalltrauma oder heiser wieder um. (Heiser vom wiederholten Anschreien Heranwachsender, die Silvester als sportlichen Wettkampf und naive Spaziergänger als bewegliche Ziele für Weitwurfübungen missverstehen.)

Alles Übertreibung? Wer das behauptet, wohnt nicht in Berlin, sondern im Waldrand, Verzeihung, Umland, oder hat schon seit Beginn der Vorweihnachtszeit die Ohrenstöpsel nicht mehr entfernt, um den Dauerhit »Last Christmas« nicht hören zu müssen. Schließlich wird die Vertonung dieses Jahresendzeitmarathons aus schlechter Kneipendeko und Billigsektbowle nicht besser: Am Brandenburger Tor warten Heino und Scooter.

Auch abseits dieses Touristenmagneten sieht es nicht besser aus. In Prenzlauer Berg fährt die Straßenbahn nicht mehr, weil die Gleise von den zum Mauerpark Strömenden blockiert sind. Irgendwer hat noch vor der ersten Goldregenfontäne so einen alten Schlager angestimmt. Sekttrunkene Versuche, auf dem Mauerparkberg ein glücksseliges »Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft« zu trillern, enden allerdings in würgendem Keuchen. Der Magnesiumnebel zahlloser »Alien Attack Feuerwerk-Bodenwirbel« und »Bandit 35-Schuss-Batterien« steht meterhoch und so dicht, dass Bezugsgruppen sich nun untereinander die schon schlappen Luftschlangen von Handgelenk zu Handgelenk wickeln, um sich nicht zu verlieren.

Auf stillen Waldwiesen lassen sich die mitternächtlichen Geister mit Raketen vorzüglichst verjagen, deren Farbenpracht man übrigens mangels Magnesiumnebel auch sieht. Die paar Holzstäbe pflückt man am nächsten Morgen vom Acker, dann hat man gleich den Neujahrsspaziergang erledigt und den Sektkater mit Sauerstoff versorgt. Ausschlafen kann man auch, weil weder die BSR noch das bis in den ersten Nachmittag des neuen Tages reichende Böllergeknatter stören. Immer noch Lust auf Hauptstadt? Bitte sehr, hier eine Currywurst zum Hörsturz. Ohne Currysoße.

»Berlin ist toll – gerade zu Silvester« findet Stephan Fischer

Irgendwo auf Twitter meinte neulich jemand, Silvester in Berlin ohne Böller sei wie Käsesahnetorte mit Süßstoff. Ab und an ist eine Diät ja nicht verkehrt. Aber muss es gleich komplette Askese sein? Für schätzungsweise eine Million Berliner gilt nur der Radikalverzicht: nur raus aus dem Moloch Berlin, der zu Silvester ja kaum zu ertragen ist. Der Böller wegen. Überhaupt der Krach. Und am Ende kommen noch Touristen.

Also nichts wie weg: An die Ostsee wäre schön. Aber mindestens ins Brandenburgische, am liebsten tief in den Wald hinein. Und schon sind ein paar Gesellschaftsspiele, Weihnachtsreste und die Kinder in den Kombi gepackt und es geht ab in die Pampa, den niedlichen Wölfen Gesellschaft leisten. Was den zugewanderten Berlinern die Heimfahrt zwischen den Jahren zurück zu Mutters Herd und Vaters Dialekt ist, ist für viele Berliner das ritualisierte »Flüchten aus der Stadt« über den Jahreswechsel geworden.

Die Heimgebliebenen atmen auf und können ihre Stadt jedes Jahr aufs Neue von ihrer leeren Seite kennenlernen. Nicht nur ein freier Sitzplatz morgens in der U-Bahn, nein, gleich ein ganzes Abteil gehört einem! Sogar in der Partytram M 10 finden Fahrten statt, ohne dass jemand die obligatorische Bierflasche in der Hand hält. Erstaunlich, dass die Straßenbahn so überhaupt losfahren darf. Wieder was gelernt. Aber nicht nur deshalb lohnt sich Aushalten in Berlin. Es zwingt einen ja niemand, den Jahreswechsel mit Heino, Scooter und anderen Knallgeräuschübertönern zu verbringen.

Zu Hause mit Freunden den Abend verbringen, um Mitternacht aufs Dach und kurz das Feuerwerk bestaunen, inklusive der Versicherung, selbst niemals Geld dafür auszugeben. Sich darüber freuen, dass zwei Millionen Menschen im Tiergarten feiern und nicht auf dem Spielplatz vor der Tür. Die Heimfahrt immer weiter hinauszögern können, weil BVG und S-Bahn in der Nacht alles auf Schienen und Straßen bringen, was fahren kann. Am Morgen gleich den ersten guten Vorsatz des Jahres in die Tat umsetzen und in die leere Schwimmhalle gehen. Oder in eines der vielen Museen.

Ohne die Sorge, dass ein Böller in das versehentlich offengelassene Fenster geflogen ist und die Wohnung abgefackelt hat. Diese Gedanken (Fenster zu? Herd aus?) bewegen übrigens gerade viele Berliner in den Brandenburger Wäldern. Zurückfahren oder nicht? Während diese Frage immer hitziger diskutiert wird, lassen sich die Kinder auch nicht mehr ablenken, schließlich lässt der Spaß beim gemeinsamen »Mensch-ärgere-Dich-nicht«-Spielen schnell nach. Ohne die Würfel. Die wollte man auf jeden Fall noch einpacken, aber man summte ständig dieses witzige Lied über Brandenburg und hat dann nur etwas zu Essen mitgenommen. Das Lied nervt übrigens nach der zehnten schiefen Wiederholung durch die Kinder. Und ist das nicht ein Wolf, der dort draußen heult?

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