Gefährliches Spiel

Münchhausen-Syndrom: Die Krankheit, bei der man sich leiden sieht oder leiden macht

  • Angela Stoll
  • Lesedauer: 5 Min.
Menschen mit einer artifiziellen Störung täuschen Symptome von Krankheiten vor und können dadurch in lebensbedrohliche Situationen geraten. Etwa 80 Prozent der Patienten sind weiblich.

»Die bittere Wahrheit ist, dass ich viele Jahre meines Lebens damit zugebracht habe, mich selbst krank zu machen. Ich lag dreißig bis vierzig Mal im Krankenhaus, hatte zahllose Operationen und Untersuchungen, mir wurden buchstäblich Hunderte von Medikamenten verschrieben. Keiner der Ärzte ahnte, dass ich selbst die Ursache meiner Krankheiten war.« So der Bericht einer Patientin namens Nellie, die der amerikanische Psychiater Marc Feldman in einem Buch zu Wort kommen lässt. Sie täuschte Unterleibsschmerzen vor, mischte Blut in ihre Urinprobe, fügte sich mit Ofenreiniger Brandmale auf den Armen zu oder spritzte sich Bakterien in die Blutbahn, nur um ins Krankenhaus zu kommen. »(…) Kranksein war für mich zum Lebensstil geworden, und ich konnte nicht aufhören«, berichtet sie. Erst als sie beinahe an einer Blutvergiftung gestorben wäre, nahm ihr Leben eine Wende: Sie offenbarte sich, kam in psychiatrische Behandlung.

Nellie litt an der schweren Form einer artifiziellen Störung. Davon spricht man, wenn Menschen Symptome vortäuschen oder selbst erzeugen, um krank zu erscheinen. Oft werden sie dadurch tatsächlich krank - manchmal geraten sie sogar in Lebensgefahr. Schätzungsweise 0, 5 bis zwei Prozent der allgemeinmedizinischen Patienten leiden an dieser Störung. »Das sind etwa so viele wie bei Magersucht«, sagt Prof. Dr. Annegret Eckhardt-Henn, Ärztliche Direktorin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum Stuttgart.

Landläufig spricht man auch vom Münchhausen-Syndrom, angelehnt an die Lügengeschichten, die dem Baron Münchhausen zugeschrieben werden. Experten betonen aber, dass das Münchhausen-Syndrom nur eine spezielle, sehr seltene Form einer artifiziellen Störung ist. Die Betroffenen täuschen nicht nur Symptome vor, sondern denken sich auch immer neue, oft aufsehenerregende Lebensgeschichten aus. »Typisch sind für sie auch ständige Beziehungsabbrüche. Sie reisen oft von Klinik zu Klinik«, erklärt Eckhardt-Henn.

Die meisten Patienten mit artifiziellen Störungen treten unauffällig auf. Etwa 80 Prozent sind weiblich. »Sie kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten und kennen sich in der Medizin gut aus«, berichtet Eckhardt-Henn, die sich seit 35 Jahren mit diesen Phänomenen beschäftigt. Nach ihren Erfahrungen informieren sich die Betroffenen im Internet genau über bestimmte Krankheiten, so dass es ihnen gut gelingt, Ärzte zu täuschen. Täuschungsversuche sind bei so gut wie allen Krankheiten denkbar. Oft wird die Haut manipuliert: »Es kommt zum Beispiel vor, dass Patienten heimlich Wunden verunreinigen, um den Heilungsprozess zu verzögern«, berichtet der Psychiater Prof. Dr. Hans Stoffels, Chefarzt der »Park-Klinik Sophie Charlotte« in Berlin. Eine Patientin habe sich Blut abgezapft, um eine Anämie zu erzeugen. So würde der Arzt gezwungen, die Sache durch Untersuchungen abzuklären. »Wenn ein Patient auffällig viel Wissen hat und auf bestimmte Untersuchungen pocht, sollte man als Arzt Verdacht schöpfen«, sagt Stoffels.

Patienten mit artifiziellen Störungen beschreiben ihr Verhalten oft als Zwang, aus dem sie sich nicht befreien können. Ihre Motive erscheinen schwer verständlich. »Den merkwürdigen Wunsch, unbedingt Patient sein zu wollen, kann man sich nur erklären, wenn man die Biografien anschaut«, sagt Stoffels. So seien viele Betroffene - auch Feldmans Patientin Nellie - in ihrer Kindheit misshandelt oder stark vernachlässigt worden. Geborgenheit mussten sie entbehren. Der amerikanische Psychiater Feldman erklärt das Verhalten der Patienten vor allem mit dem Wunsch nach Aufmerksamkeit, Mitleid und Zuwendung. Diese Erklärung hält Eckhardt-Henn aber für zu einfach: »Darum geht es nur an der Oberfläche. Fürsorge könnte man auch leichter bekommen.« Etwa 30 Prozent der Betroffenen legten ein lebensbedrohliches Verhalten an den Tag. So spritzte sich eine ihrer Patientinnen eine Kotlösung in die Venen und erzeugte dadurch eine schwere Blutvergiftung. Eine andere brach sich regelmäßig den Arm, indem sie ihn in eine Zugtür klemmte. In zehn Jahren brachte sie es auf rund 400 Krankenhausaufenthalte. Ob den Betroffenen bewusst ist, was sie tun, lässt sich schwer sagen. Offenbar leiden sie an einem Gefühl der Entfremdung (Depersonalisation), wenn sie ihrem Körper schaden.

Eine andere Form von artifizieller Störung ist das »Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom«: Dabei täuschen die Betroffenen vor, dass ein Schutzbefohlener, in der Regel ihr Kind, krank sei. Mütter behaupten zum Beispiel, ihr Kind habe einen Krampfanfall oder Atemstillstand gehabt und verleiten Ärzte dazu, es entsprechend zu behandeln. Dahinter steckt nach Feldmans Auffassung der Wunsch, als aufopferungsvolle Mutter bewundert zu werden. Auch Machtgefühle und der Versuch, eine schwierige Paarbeziehung durch die Konzentration auf ein krankes Kind zu kitten, können eine Rolle spielen. Meistens sind die Täterinnen in ihrer Kindheit misshandelt worden und geben ihre traumatischen Erfahrungen weiter. 5 bis 30 Prozent der Kinder sterben an den Folgen der Misshandlungen, andere überleben schwer traumatisiert.

Den Betroffenen zu helfen, ist schwierig. Zuerst muss man sie überhaupt dazu bringen, sich behandeln zu lassen. Dazu brauchen Ärzte und Psychiater viel Fingerspitzengefühl. Wenn die Patienten nämlich direkt mit dem Verdacht konfrontiert werden, streiten sie oft alles ab und ergreifen die Flucht. Und selbst wenn Einsicht da ist, gibt es für Münchhausen-Patienten »keine wirklich guten Therapiekonzepte«, wie Eckhardt-Henn sagt. Sie seien in einer Klinik, die auf schwere Persönlichkeitsstörungen spezialisiert sei, am besten aufgehoben. Bei anderen Patienten mit artifiziellen Störungen könne eine Verhaltenstherapie, die mit einer tiefenpsychologischen Therapie kombiniert werde, helfen. »Oft ist es aber ein langer Behandlungsweg«, sagt sie. Immerhin hat Nellie offenbar ihr Ziel erreicht: »Ich habe jetzt tatsächlich ein neues Leben begonnen«, schreibt sie.

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