nd-aktuell.de / 17.01.2014 / Kultur / Seite 16

Das stürmische Mare Nostrum

Ein Streifzug durch 3000 Jahre Geschichte rund um das Mittelmeer - Von Eroberern, Piraten und Flüchtlingen

Rupert Neudeck

Als ich dieses Buch las, musste ich an den Europa-Politiker Paul Frank denken, ehemals Staatsminister bei Willy Brandt und Vorreiter für eine gemeinsame deutsch-französische Politik. Schon in den 1970er Jahren war er der Meinung: Wenn das mit der Entwicklungspolitik etwas werden soll, dann sollten wir uns bescheiden und pragmatisch um den Tisch des Mittelmeeres setzen und mit allen Anrainerstaaten privilegierte Kontakte aufnehmen - statt bei Problemen gleich allen 53 Staaten Afrikas das »Manna« (alt-biblische Speise der Israeliten währen ihrer 40-jährigen Wanderschaft durch die Wüste) zu entziehen.

Dieses ein Kilogramm schwere Buch hat es wahrlich in sich. Der Autor ist unverkennbar ein Liebhaber des Mare Nostrum und ein exzellenter Kenner der Geschichte und Kultur der an dessen Küsten siedelnden Völker. David Abulafia blickt weit zurück in vorchristliche Zeit, berichtet über Weltreiche der Antike rund ums Mittelmeer. Er ist den Kreuzfahrern ins Heilige Land auf der Spur, schildert den Feldzug Napoleons nach Kairo und Alexandrien, die kolonialen Begierden der Briten und den Streit um den Suez. Abulafia bietet eine spannende Geschichte der Menschen, die das Mittelmeer befuhren und befahren, an seinen Küsten und auf seinen Inseln lebten und leben.

Man vermeint, im Buch den Atem eines Leopold von Ranke zu spüren. Mit Detailtreue und Leidenschaft wendet sich Abulafia den verschiedenen Epochen zu und zeigt, wie es gewesen ist. Das erste mediterrane Zeitalter verortet er in die Zeit von 22 000 bis 1000 vor Christus, das zweite in den ergiebiger erforschten Zeitraum bis 600 Jahre nach Christus. Uns begegnen die Erben des Odysseus, wir erleben den Triumph der Tyrrhener und hören den Schlachtruf von Cato vor dem römischen Senat: »Im Übrigen meine ich, dass Karthago zerstört werden muss.«

Das dritte mediterrane Zeitalter bezieht der Autor auf die Jahre 600 n. Chr. bis 1350, in denen sich die Grenzen zwischen der christlichen und der sich ausbreitenden islamischen Welt erheblich verschoben. Das vierte mediterrane Zeitalter reicht nach Abulafia über die Französische Revolution hinaus bis zum Jahr 1830. Im frühen Mittelalter träumte man von einer Erneuerung des Römischen Reiches; 1815 war der Untergang des fragilen Heiligen Römischen Reiches besiegelt. Piraten trieben ihr Unwesen auf dem Gewässer. Das Zarenreich drang in den Mittelmeerraum ein. An dessen östlichen Küsten setzten sich jedoch nicht die Russen dauerhaft fest, sondern die Osmanen. Ins letzte, fünfte Mediterrane Zeitalter fallen der Untergang des Osmanischen Reiches und die Gründung eines säkularen türkischen Staates durch Kemal Atatürk.

Ein spezielles Kapitel beschreibt den historischen Wandel in den Küstenstädten Alexandria, Saloniki, Smyrna, Haifa und Tel Aviv. Nicht ausgeklammert sind die Jahre der Diktatur Mussolinis. Der Autor macht den Leser mit dessen größenwahnsinnigen Allmachtsallüren bekannt. Fanatischer Hass, Ab- und Ausgrenzungen, Eroberung und Unterwerfung prägten die Geschichte der Völker rund ums Mittelmeer seit jeher. Im Mai 1919 marschierten 13 000 griechische Soldaten in Smyrna (heute Izmir) ein, von der Bevölkerung anfangs noch begrüßt. Deren Euphorie schwand alsbald angesichts der Übergriffe auf dort lebende Türken. Das Rote Kreuz sammelte Beweise für die ethnische Säuberung. Ein griechischer Offizier antwortete auf die Frage, warum er es zulasse, dass seine Leute Türken töteten: »Weil es mir Spaß macht.« Als im September 1922 Atatürks Truppen die kulturell und strategisch wichtige Hafenstadt und deren Umland besetzten, richtete sich die Gewalt nun gegen die Griechen; christliche Stadtviertel gingen in Flammen auf und der Erzbischof von Smyrna wurde vom Mob gehängt. Humanitäre Katastrophen ereignen sich auch heute noch im Mittelmeerraum. Man denke nur an die Tausenden afrikanischen Flüchtlinge, die in den Fluten des Mare Nostrum ertrunken sind und weiter ertrinken werden, wenn sich die Europäische Union nicht endlich zu einer humanen Asylpolitik aufrafft.

Im Mittelmeer hatte die Globalisierung lange vor unserer Zeit Einzug gehalten. Durch die Meerenge von Gibraltar und Suez verliefen Handelsrouten, die von Kaufleuten diverser Nationen und Religionszugehörigkeit bevölkert wurden. Auch heute ist das Mittelmeer noch ein zentraler Handelsplatz. Den dramatischen Zusammenbruch der Staatsfinanzen in Griechenland 2010 nutzte China, um Anteile am Hafen von Piräus zu erwerben und somit für den Vertrieb eigener Produkte einen günstigen Standort zu besitzen.

Das Buch von Abulafia offenbart auch, dass Weltpolitik manchmal nicht einer gewissen Komik entbehrt. Spaniens Regierung hat den Anspruch auf Gibraltar bis dato nicht aufgegeben. 1965 drohte Madrid mit dem Boykott der Miss-World-Wahlen für den Fall, dass eine »Miss Gibraltar« daran teilnehmen würde. Vieles in der Geschichte geschieht nicht absichtlich, als Resultat eines lang gehegten Plans, sondern vielmehr »in a fit of absence of mind«, in einem Anfall von Geistesabwesenheit. Spaniens König Philipp V. hatte im Vertrag von Utrecht 1713 den Briten »das volle und ganze Eigentum an der Stadt und Burg von Gibraltar« überlassen, »ohne Ausnahme und ohne Einschränkung«.

Die Welt hat sich radikal verändert und ist mit neuen Transportmitteln und Kommunikationstechnologien enger zusammengerückt. Drehte sich vor Jahrtausenden die Welt nur ums Mittelmeer, so ist heute, wie David Abulafia seine »Biographie« beschließt, die Welt ein einziger großer Mittelmeerraum.

David Abulafia: Das Mittelmeer. Eine Biographie. S. Fischer, Frankfurt am Main 2013. 960 S., geb., 34 €.