nd-aktuell.de / 23.01.2014 / Politik / Seite 1

Fall Kiesewetter: Mundlos käme »bedingt« als Täter infrage

NSU-Prozess in München fortgesetzt / Gutachten von Gerichtsmediziner im Fall der ermordeten Polizistin

René Heilig, München

Der 76. Verhandlungstag im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht in München begann am Mittwoch mit dem Gutachten von Professor Hans-Dieter Wehner. Der Gerichtsmediziner aus Tübingen war mit der Untersuchung des Mordes an der Polizeimeisterin Michele Kiesewetter im April 2007 in Heilbronn betraut worden. Bei dem Anschlag ist auch Kiesewetters Kollege Martin Arnold schwer verletzt worden.

Wehner untersuchte die Umstände des Anschlages, berechnet an Hand von Schusskanälen und anderen Daten mögliche Positionen der Täter. Zudem war der Wissenschaftler mit der Untersuchung einer Jogginghose von Uwe Mundlos betraut worden, an der Blutspuren von Kiesewetter gefunden wurden. Nur bei einer möglichen Standposition käme Mundlos »bedingt« als Täter infrage.

Mundlos und sein Neonazi-Freund Uwe Böhnhardt werden von der Bundesanwaltschaft als Täter bezeichnet. Man hatte im Schutt ihrer Wohnung in Zwickau, die nach dem Auffliegen des NSU-Trios von der nun angeklagten Beate Zschäpe in Brand gesetzt wurde, zwei mögliche Tatwaffen gefunden.

Irritationen ergaben sich bei der Befragung des Gutachters durch Nebenkläger. Dabei wurde deutlich, dass die Vermessungspositionen für den Schützen, der auf den Beifahrer Polizeimeister Arnold gefeuert hat, möglicherweise nicht exakt sind. Folgt man der Anklage, so kommt Böhnhardt als Schütze in Betracht. Der jedoch ist – anders als von Professor Wehner untersucht – Linkshänder gewesen. Verändert man die Stellung des Schützen entsprechend, so wäre der Gefahr gelaufen, von seinem Kumpanen angeschossen zu werden. Gehört wurden auch weitere Ermittler und Kriminaltechniker. Deren Aussagen gingen nicht über das in den Akten zusammengetragene Wissen hinaus.

Das Attentat von Heilbronn gilt Ermittlern, Prozessbeobachtern und Opferanwälten als der rätselhafteste der Mordserie, die dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zur Last gelegt wird. Immer deutlicher wird, wie hilfreich ein Untersuchungsausschuss den Landtages in Baden-Württemberg sein könnte, der den Mord in Heilbronn sowie bundesweite Verflechtungen von Neonazi-Kameradschaften erhellt.

Martina Renner, ehemalige Obfrau der Linksfraktion im Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss und jetzt Mitglied im Bundestagsinnenausschuss, betonte gegenüber »nd«, dass insbesondere die Blood-and-Honour-Strukturen in Baden-Württemberg aufgeklärte werden müssten. Das sei auch bedeutsam, weil zahlreiche Aktivisten dieser Neonazi-Szene aus neuen Bundesländern nach Baden-Württemberg umgezogen sind. Besonderes Interesse müsste auf die Band »Noie Werte« und deren Umfeld gerichtet werden. Zugleich gebe es zahlreiche Fragen zur Mitgliedschaft von Polizisten in der rassistischen Vereinigung Ku-Klux-Klan, die noch nicht beantwortet sind. Renner erinnerte zudem daran, dass noch immer eine Entschuldigung gegenüber Roma und Sinti ausstehe, die bei den Heilbronner Ermittlungen in falschen Verdacht gerückt worden waren.

Der Anwalt des beim Anschlag schwer verletzten Polizeibeamten Martin Arnold, Walter Martinek, sagte gegenüber den »Stuttgarter Nachrichten«: »Wenn es irgendwo einen Bedarf für einen Untersuchungsausschuss gibt, dann in Baden-Württemberg.« Für den Stuttgarter Strafrechtler sind die Vorfälle rund um die Bluttat von 2007 »politisch gar nicht aufgearbeitet worden«. So habe es im Südwesten keine Diskussion über die Ermittlungspannen bei der Aufklärung der Bluttat gegeben. Auch der heutige Polizeikommissar Arnold selbst ist unzufrieden mit den bisherigen Ermittlungen. Bei seiner Befragung vor dem Münchener Oberlandesgericht in der vergangenen Woche hatte er geäußert, er leide darunter, »dass ich das Motiv für die Tat nicht kenne. Ich weiß bis heute nicht, was Sache ist«.

Baden-Württembergs Innenminister Reinhold Gall, der schon mehrfach einen Bericht der Ermittlungsgruppe »Umfeld« des Stuttgarter Landeskriminalamtes angekündigt hat -, den es auch fast sieben Jahre nach dem NSU-Mord in Heilbronn noch immer nicht gibt – hält einen Untersuchungsausschuss für nicht geeignet, um zur Aufklärung des Neonazi-Terrors beizutragen.

Zum Abschluss des Verhandlungstages erschien ein Zeuge des Bundeskriminalamtes (BKA). Die Befragung durch die Opferanwälte offenbarte ein erschreckendes Unwissen insbesondere dann, wenn es um das Umfeld des Opfers Michele Kiesewetter sowie die Einsatzplanung und Dienstdurchführung in Kiesewetters Polizeieinheit ging. Die Umfeldermittlungen unter anderem im Heimatort von Kiesewetter Oberweisbach waren offenbar mehr als schlampig. Kritiklos übernahm der verantwortliche BKA-Beamter alte Recherchen anderer Ermittler, er hatte nicht die blasseste Ahnung von den Ermittlungen der derzeitigen Ermittlungsgruppe »Umfeld«. Völlig ungeprüft übernahm das BKA auch Aussagen von Aktivisten aus der rechten Szene, die unter anderem jegliche Beziehung zwischen dem Ku-Klux-Klan in Baden-Württemberg und dem NSU leugnet.

Im Verhandlungssaal wurde der Ton zwischen dem Vorsitzenden auf der einen und Nebenklagevertretern auf der anderen Seite zunehmend schärfer.