nd-aktuell.de / 27.01.2014 / Kultur / Seite 15

Erst die Zither, dann das Zittern

»Die letzten Tage der Menschheit« von Karl Kraus am Staatsschauspiel Dresden

Hans-Dieter Schütt

Wir sind planetarisch vielsagend »aufgestellt«. Fortwährend japsen wir nach dem Platz an der Sonne. Befinden uns zivilisatorisch weit hinterm Mond. Verbinden ausgerechnet den wohl lebensfeindlichsten Brocken, die Venus, mit Schönheit. Und huldigen einem Kriegsgott, der Mars heißt. Aber was wir können - zerstören, zernichten, zertreten -, das kann der Marsianer auch, also wird er die Erde und deren vermeintliche Schöpfungskrone, die doch wahrlich der Gipfel der Frechheit ist, ins All zurückstäuben. Wir haben einen Knall, ein Knall wird uns erledigen. Science Fiction von Karl Kraus: »Die letzten Tage der Menschheit«. Er lässt Außerirdische das auslöschen, was doch nur immer nach Höllenfeuer giert: uns. Zuvor, in seinem Stück: noch einmal das ganze Panorama aus patriotischem Popanz, militaristischem Mummenschanz, ideologischer Idiotie. Auf Hunderten von Seiten hat Kraus nach Beginn des Ersten Weltkrieges das Trauma ausgebreitet, hat in einer überbordenden Collage aus dramatischen Szenen, aus Kabarett, Zeitungstexten, Gerichtsurteilen, Heeresberichten, Reportfetzen das Kriegs-Wesen Mensch protokolliert.

Am Staatsschauspiel Dresden inszenierte Wolfgang Engel (Bühne: Esther Bialas) Auszüge aus dem Kraus-Monumentalwerk. Das vom Autor selber »nur« als Lesestück konzipiert war, und das er daher sogar Regisseuren wie Max Reinhardt und Erwin Piscator verweigerte. Über zweihundert Szenen, eine gigantisch ausufernde Personage, und die voraussichtliche Spieldauer, übernähme man auf dem Theater Wort für Wort: mehrere Tage. Dresdens Theater kürzte, konzentrierte: drei Stunden.

Neun Schauspieler sitzen vorm Eisernen Vorhang auf einer Turnhallenbank. Heitere Hurra-Hüpfer, fröhliche Front-Fanatiker, geschmacklose Gewalttätigkeits-Geister. Bürger, also: Kleinhirne gernegroß. Witze, weinerliche Wehmut, wilde Wüterei: »Die Russen und die Serben, die hauen wir in Scherben.« Das Korps als Chor: »In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehn.« Ja, dann, wenn aus Krakeelern Kriegskrüppel geworden sind: denn sieh, wie die Neun da plötzlich krauchen, sich krümmen. Kümmerliche Körperreste. So sieht es aus, das Ende vom grölenden oder gemütsweichen Lied. Erst Zither, dann das große Zittern. Kontrastkunst.

Vorhang hoch. Eine Turnhalle. Hier hat die Katastrophe schon stattgefunden. Feldbetten: Lazarette sich, wer kann. Aktenschränke. Barren und Sprungpferd. Oben in der Glasdecke ein Loch. Aufmarsch der Gewinnmacher und Gesinnungsmitmacher. Laufender Szenenwechsel, ohne dass die Szene wechselt. Präparate statt Charaktere. Grotesk. Kaiser Wilhelm als berlinernder Blödian auf dem Pferdsprung-Gerät, seine Vasallen geben sich auf seinen Befehl hin als Kuh oder Huhn. Eine Künstlerin beantwortet Fragen zu ihren erhebenden Eindrücken und Erlebnissen in Russland - das aber ist Feindesland; wie eine Hundemeute zerfleischt die nationalistische Journalistenclique daher ihre Erzählungen; Reporter als Erpresserbande - bis die zermürbte Frau bereit ist, das Gegenteil dessen zu berichten, was sie erlebte. Eine deutsche Hausfrau als gülden kostümierte Walküre: schlimmes Schicksal, wenn eine Mutter mitten im Krieg Kinder hat, die noch nicht im Heldentod-Alter sind - ein Bauch gehört zerfetzt, nicht genährt. Ein Veteran im Rollstuhl, eher ein Fetteran, von Klerus-Schwestern beim Lungenkotz missmutig und angeekelt bewischt - er hustet stolze Frontberichte. Ein Minderjähriger darf nicht hingerichtet werden - also wird das Geburtsdatum heraufgesetzt. Eine Frau, schwanger von einem Vorübergehenden, schreibt entschuldigend und erschüttert an ihren Mann im Felde - völlig aus der Bahn geworden von der unerwarteten Tatsache, dass der noch lebt. Wer muss sich hier bei wem entschuldigen?

Das Gewalttätige und das Gelittene. Das Heucheln und das Meucheln. Das Singen, das mitunter zum Schreien ist. Und der Schrei? Ist Diener zweier Herren: der Lust am Krieg und des Leides im Krieg. Besagte Turnhalle: wie eine Marthaler-Viebrock-Szenerie. Diese Assoziation ist freilich auch eine Krux: ich werd sie nicht los. Wolfgang Engel inszenierte martialisch direkter, konturenhärter, erkenntnisklarer und also karikativer - wo ein Marthaler wohl raffinierter kombiniert und melodeit hätte: Es wird ja beim Schweizer gesungen und geredet; es wird beim Schweizer grausam geredet und schön gesungen; grausam, wie da schön gesungen wird, während alle nur grausam schönreden. Marthalers böseste Gestalten sind salbungsvoll, immer herzig, immer herzlos, immer eine fast liebenswerte Schwächlichkeit ist noch in den abgefieseltsten Figuren, zugleich eine kollektive Grausamkeit, die alles Schwächliche, Tückische trägt und schützt - wo der Weg des Mörderischen gegangen wird, darf es besonders nach Demut und Wehmut klingen. In diesem Punkt ist Engel weit gnadenloser ein deutscher Regisseur, es ist Hinweiskunst ohne Umwege. Ist mehr Kabarett als Grusel. Es schulstoffelt ein wenig. Es ist angesagt, was dann auch gespielt wird.

Kräftig bespielt wird. Starke Schauspieler. Thomas Braungardt mit gummiquicker Artistik, Christine Hoppe in mondäner Kälte, Ben Daniel Jöhnk: lauernd wendig und weich, Hannelore Koch zwischen kicherndem oder überdreht-pathetischem Tastsinn für Realitäten und melancholisch getragener Verlassenheit, Ina Piontek aufgekratzt leidend, Martin Reik: ein feistes Dahindumpfen, Sebastian Wendelin: grandios weanerisch, also breitmäulig und brutal. Matthias Reichwald und Ahmad Mesgarha: Optimist und Nörgler im Rededuell - Kraftmotzerei kontra Klugheit, bedenkenlose Männlichkeit gegen bedenkende Mählichkeit.

Karl Kraus, der Österreicher. Der herrlich Giftige, der geistreich Gallige. Irgendwann wird er schreiben: »Zu Hitler fällt mir nichts ein.« Hitler, die Symbolfigur eines Volkes, das für die traurigste Tatsache nationaler Entwicklung steht: Ein Tyrann muss sich hierzulande schon selber umbringen. Was in Deutschland zu Hitler führen wird, das malt Kraus hier in k.u.k-Farben vor. »Bumsti!« platzt es aus grinsendem Mund, wenn einer abgeknallt wird. Bumsti! Das ist Sprache: Was du wie sagst, verrät dich an die Geschichte; keiner beherrscht die Sprache, die er spricht; Sprache sagt uns aus, auch dort, wo wir etwas sagen, um etwas zu verbergen. Da verkündet ein Wiener Zeitungsbote, dass politisch gemordet wurde, er schreit was von Tätern - mag ja sein, dass Unschuldige dran glauben mussten, aber der wahre Skandal ist doch, dass dieser Bote nicht mal richtig Österreichisch kann, denn: Das heißt »Däder«, nicht »Täter«, Junge, Junge!, wohin nur ist die Sprachkultur geraten!

Kraus’ Menschenmasken-Mosaik offenbart den geschichtsnotorischen Spezialisten der totalen Verwendbarkeit, dieser Typus ist der siebenundzwanzigste oder vierundvierzigste Fuß eines Tausendfüßlers, dem es egal bleibt, wohin mit ihm marschiert wird. Das Bewusstsein ist auf Funktion reduziert, auf Abonnement geeicht. Am liebsten wärmt man sich an Ohnmacht. Und sogar »Demokratie« kann der Sprachlose flüstern. Das ist jener Staatszustand, der laut zur halben Mitarbeit einlädt, aber leise die ganze Wahrheit weitersagt: dass jeder von uns doch nicht mehr will als sich selbst. Das ist nicht unbedingt Vergangenheit. Bumsti!

Der Schluss: ein grausiges Apokalypsen-Kabarett mit Gasmasken und quasi Schmauchspuren im angeschossenen Kriegstreibergemüt. Es ist, als sei Antigone unter einen Otto-Dix-Pinsel geraten, die Klassik stöhnt unter George-Grosz-Spitzstiften. Jeder hohe Gedanke fällt in einen gähnenden Abgrund. Menschen plötzlich mit Seele auf der Haut: im Angstschweiß getrocknet. Das Glasdach hebt sich wie eine Schädeldecke. Der Mensch hat keine Schädeldecke mehr. Er hat sich für die Schädelstätte entschieden. Sterne blinken von oben herein. Die Sterne einer Heimat sind es nicht. Heimat war gestern und war eine imperialistische Lüge. Wolfgang Engel tritt als Stimme der Marsianer herein, in hellem Anzug. Spricht mit motorischer Inständigkeit, gefasst endgültig Kraus’ poetischen Wahnsinnstext über den verderblichen Charakter der Menschheit. Das ist purer Gegenwartskommentar. Atemberaubend wahr. Das Todesurteil. Jetzt der Bombenkrach, der das Theater zum Vibrieren bringt. Mars vivendi. Weg mit der Erde! Das waren sie, die letzten Tage der Menschheit. Auf dem schwarzdunklen Vorhang eine letzte Schrift: »Die Stimme Gottes: Ich habe es nicht gewollt.« Was nicht gewollt? Den Menschen oder dessen Ende? Die Erschaffung oder die Abschaffung?

Nächste Vorstellung: 9. Februar.