Ums letzte Brot gebracht

Mit dem »Mini-Markt« in Mitte schließt einer der wenigen kleinen Lebensmittelläden in Familienhand

  • Benjamin Beutler
  • Lesedauer: 5 Min.
Am Rosenthaler Platz hat einer der letzten Familien-Supermärkte dichtgemacht. Gegen Modeboutiquen, Edelrestaurants und Luxushotels im Boomviertel haben Lebensmittel keine Chance.

Quang Do Xuan hat Tränen in den Augen: »Seit 15 Jahren arbeite ich von morgens um sieben bis abends um neun. Montag bis Sonnabend, ohne Ferien.« Ein halbes Berufsleben steht Herr Do Xuan schon vor den langen Industrieregalen. Auch jetzt, mit Schal und in dicker Jacke, räumt er Schokoladentafeln und Kaffeepakete ins bunte Sortiment. Notiert mit Kugelschreiber Preise auf Etiketten. Pappt die roten Aufkleber auf die Ware und hofft im grellen Neonlicht auf Kundschaft. Die Routine an diesem Januartag, mitten im Herzen Berlins, sie trügt. »50 Prozent auf alles«, steht auf dem Aufsteller vorm unscheinbaren »Mini-Markt«, eingelassen in die verkachelte Plattenbau-Fassade zwischen Rosenthaler Platz und Hackeschen Markt.

Vergangenen Sonnabend nun der letzte Arbeitstag. Alle Welt läuft an diesem Supermarkt vorbei: Alexanderplatz, Unter den Linden, Museumsinsel, Brandenburger Tor, Mauerpark und Kastanienallee, gleich um die Ecke. Orte, die in Reiseführern der Millionen von Berlinbesuchern dick angestrichenen sind. Seine Ladenkasse aber hat der Tourismusboom zum Schweigen gebracht. Nur eine Handvoll Stunden noch. Dann zieht Quang Do Xuang die Tür seines Ladens hinter sich ins Schloss, ein für alle Mal. Ein Zettel am Eingang verkündet das Aus: »Liebe Nachbarn, die WBM (Wohnungsbaugesellschaft Berlin Mitte) hat zum 25. Januar gekündigt.« Ausverkauf!

Mit den Temperaturen ist auch die Stimmung im Lebensmittelladen auf dem Tiefpunkt. Den Telefonhörer in der Hand nimmt Quang Do Xuans Gattin beim Kassieren letzte Anrufe entgegen. Wechselt Geld, und ebenso spielend zwischen Deutsch und Vietnamesisch. Draußen schiebt sich eine Straßenbahn durch die dicht bebaute Mitte der Hauptstadt. Winterkälte kriecht ins Erdgeschoss des DDR-Plattenbaus, der vereiste Fernsehturm glänzt im Großstadtdunst: Rosenthaler Straße 11. »Meinen Kunden wollte ich erst nichts sagen, vor vier Wochen habe ich dann aber doch davon erzählt«, sagt der Einzelhändler und spielt mit dem Stift. Er erzählt leise von den Ereignissen der letzten Wochen, vom Ende seines über die Jahre mühsam aufgebauten Broterwerbs.

Vor einigen Monaten flattert dem Familienunternehmen das Kündigungsschreiben in den Briefkasten. Kein Anwalt aus München ist es, der sie vor die Tür setzt. Kein Zahnarzt aus Düsseldorf, der dem Vater Do Xuan die Pistole auf die schmale Brust setzt. Auf dem Briefkopf steht: Wohnungsbaugesellschaft Berlin Mitte. Mit Vollgas saniert das landeseigene Unternehmen seinen Immobilienbestand in der gehypten Gegend. Jetzt ist der rötlich-graue Block mit dem »Mini-Markt« im Erdgeschoss dran. Gegenüber ein verglaster, schwarzer Neubau, wo Frauen im »Womens Gym« weit sichtbar auf dem Laufband joggen. Mittdreißiger im Edel-Sushi-Restaurant sitzen. Und ältere Herrschaften die Treppe von der ästhetischen Zahnmedizinpraxis hinabschlendern, um beim Italiener ihren Espresso zu schlürfen.

Die Do Xuans plagt andere Sorgen. Nach den Bauarbeiten, so das WBM-Schreiben, könne sich der Lebensmittelhändler neu bewerben. Das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. In der Spreemetropole tobt der Wettbewerb wie nie zuvor. Kleinen Fischen nimmt die Konkurrenz im Viertel die Luft zum Atmen. Der Boom des Easy-Jet-Tourismus, die Luxussanierungen und die Start-up-Boheme haben die Gegend zum heiß umkämpften Anlagejuwel geschliffen. »WBM weiß doch genau, dass ich keine Chance habe«, sagt der Mann aus Vietnam.

Mit ganzer Gewalt hat die unsichtbare Faust des Berliner Immobilienmarktes zugeschlagen. Übrig bleibt, neben ungewisser Zukunft, das ungute Gefühl tauber Machtlosigkeit. Den neuen Quadratmeterpreis zu stemmen, ein Ding der Unmöglichkeit. Zwischen 40 bis 60 Euro müsste der Lebensmittelverkäufer berappen, das ist mit Brot, Gemüse und Milch nicht zu verdienen. »Bisher waren es zehn Euro.« Seine Augen wandern durch die Gänge, um auf den abgetretenen Kieselsteinplatten müde zur Ruhe zu kommen: »Wie viele Brötchen soll ich verkaufen, um die neue Miete bezahlen zu können?« Selbst Rewe und Kaisers, Riesen mit Milliardenumsätzen, würden höchstens 25 Euro kalkulieren. Einen Bauplan, wie er den Laden im Falle eines Zuschlages gestalten wolle, muss der Kleinhändler der WBM vorlegen. Kapital, das knapp ist: »Das kostet mich ein paar Tausender, die verliere ich, wenn ich mich ohne Erfolg bewerbe.«

Nicht erst seit gestern herrscht in der Spandauer Vorstand Goldgräberstimmung und werden Existenzen zerstört. Bewohnern und Gewerbetreibenden, die dem einst heruntergekommenen Kiez treu die Stange gehalten haben, fliegen die steigenden Mieten um die Ohren. »Gentrifizierung«, das holprige Wortungetüm, ist längst Volkswortschatz, es steht für Vertreibung, Ohnmacht, Wut. Natürlich wolle den Fortschritt niemand aufhalten, erklärt eine Stammkundin, den Einkaufsmetallkorb fest im Arm. »Alte Fenster haben wir in unserer WBM-Wohnung, richtiger Ostcharme, da macht die Sanierung schon Sinn«, findet die Anfangfünfzigerin aus der Linienstraße. Aber gerade von einer öffentlichen Immobilienfirma habe sie, Frau eines Marketingangestellten einer Berliner Tageszeitung, »eigentlich mehr erwartet«. Noch mehr hippe Boutiquen und Galerien, das »geht an der Realität der Menschen hier vorbei, völlig«.

Das findet auch die Nachbarschaft. Seit sie vom Mietzins-Knock-Out Wind bekommen hat, wird Sturm gelaufen. Aushänge fordern zu Beschwerden auf. An der Kasse liegen Unterschriftenlisten zur Rettung des kleinen Supermarkts aus. Und die sind in wenigen Tagen voll. Nicht nur die Do Xuans, die direkt über ihrem Laden wohnen, stecken in der Mietklemme. Für die Kiezbewohner ist der Laden unverzichtbar, und auch sie wissen: Wir könnten die Nächsten sein. »In jeder Hofpause kommen wir hier rüber«, ärgern sich zwei Schüler von der Waldorfschule und tragen sich in die Protestliste ein. Auch die Frau aus der Linienstraße hat ihre Kinder »zu den immer netten, immer so lieben Leuten« im »Mini-Markt« geschickt.

Viele Alte kommen, bis zum nächsten Laden ist es zu weit. Angestellte aus der Umgebung kaufen Selters und Schrippen für die Pause. Im Sommer stehen Kinder vom Jugendclub im Park für ein Eis aus der Kühltruhe Schlange, Männer mit kleinem Geldbeutel auf ein Fläschchen Bier. Über tausend Anwohner und Stammkunden haben bisher unterschrieben. Wie die WBM reagiert, weiß niemand. Schenkt man Broschüren Glauben, legt die Firma aus der Dircksenstraße Wert auf ein »sozial intaktes Umfeld«. In Erinnerung an Walter Womacka, bekannt für seinen Wandfries am »Haus des Lehrers«, prahlt man mit dem Slogan: »Der Mensch, das Maß aller Dinge«. Unten im Laden muss gearbeitet werden. »Hast du noch Kleingeld?«, ruft Frau Do Xuan von der Kasse. »Einen Moment bitte.« Freundlich wie immer. Bis zuletzt.

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