Das Vermächtnis der Spinoza

900 Jahre Geschichte Europas: »Das Elixier der Unsterblichkeit« von Gabi Gleichmann

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Kann man neunhundert Jahre Geschichte Europas mit all ihren Verwerfungen und - unlösbar damit verbunden - die Geschichte der aus Spanien kommenden, sephardischen Juden in einen Roman fassen? Eigentlich nicht! Aber dem norwegischen Autor Gabi Gleichmann gelingt mit seinem Romandebüt »Das Elixier der Unsterblichkeit« das Unvorstellbare, und zwar in so fantastischer Weise, als habe er selbst vom Elixier unsterblicher Erzählkunst gekostet. Hervorragend versteht er es, das stückweise Wissen des Lesers abzurufen, es augenzwinkernd mit »fiktiven Fakten« (so Peter Esterházy) anzureichern und alles zu einem großen Familienepos zusammenzufügen. Es ist die Geschichte der Familie de Espinosa, die er erzählt, die Geschichte von Juden also, die sich nach der Vertreibung von der Iberischen Halbinsel im 16. Jahrhundert in Holland Spinoza nennen werden. Der Name ist uns vertraut und assoziiert philosophisches Wissen, was auch im Roman von Bedeutung ist.

Die Familienchronik beginnt im 12. Jahrhundert und reicht lückenlos bis ins 20. Im Jahre 1129 kommt in der Kleinstadt Espinosa, unweit von Burgos, Baruch, der Sohn des Rabbiners Judah Halevy, zur Welt. Zur Geburtsstunde erscheint am Himmel ein Komet mit doppeltem Schweif und kündigt das Besondere dieses Ereignisses an. Baruch, der Name heißt »der Gesegnete«, wird der Urvater der Spinoza werden.

Zum Jüngling herangewachsen, trifft Baruch eines Tages auf einer heißen, staubigen Landstraße einen fremden Wanderer. Es ist Moses, der jüdische Prophet selbst, der ihn anspricht und beauftragt, sein Elternhaus zu verlassen und gen Westen zu gehen, um dort ein Geheimnis zu finden. Dieses Mysterium oder Licht geheimen Wissens soll für ihn selbst und für seine zahlreichen Nachkommen zu einem »Elixier der Unsterblichkeit« werden. Unter zwei Bedingungen: Es muss stets vom Vater an den ältesten Sohn weitergegeben werden, und kein Fremder darf es erfahren. Baruch folgt der Weisung des Propheten, bricht auf, übersteht einige Abenteuer und gelangt nach Lissabon, wo er zum Leibarzt des Königs avanciert. Geschickt im Umgang mit Heilkräutern gelingt ihm eines Tages die Mischung einer Arznei, es ist - das Elixier.

Machen wir nun einen großen Sprung in die Gegenwart bis zum letzten Spinoza und damit zum Ende der Familiengeschichte. Der Sprung rechtfertigt die Tatsache, dass der Autor selbst zusammen mit dem Ich-Erzähler Ari (geboren 1950) gleichzeitig vom Ende und vom Anfang her erzählt. Er solle die ganze Geschichte der Spinoza aufschreiben, hat Aris Mutter zu ihrem Sohn auf dem Sterbebett gesagt. Noch liegt das geheime Familienerbe in einem kleinen Koffer, und der kinderlose Ari ist selbst dem Tode nahe. Um den letzten Wunsch der Mutter zu erfüllen, verwandelt Ari die alte Geheimschrift Seite für Seite in ein Buch der Erinnerungen. Das berichtet von all den tradierten und neuen Geschichten, von Liebe und Tod, Armut und Vertreibung, von Irrtümern und Wundern. Der Leser wandert durch die Jahrhunderte, zusammen mit den Spinoza, die als Ärzte, Philosophen, Kabbalisten, Revolutionäre, Künstler, Journalisten und Kommunisten ihre jeweilige Zeit inspirierten, der Aufklärung, der Französischen Revolution und der Oktoberrevolution wesentliche Impulse gaben. Einer von ihnen, Salman Spinoza, hatte es einst nicht lassen können, einige Tropfen des Elixiers zu kosten und musste deshalb 350 Jahre heimatlos durch die Welt wandern. Den Nicolaus Spinoza ließ sein ehemaliger Freund Robespierre köpfen, bevor er selbst aufs Schafott steigen musste.

Nur von der letzten Generation vor Ari erfährt man so gut wie nichts, die Eltern haben über das Schreckliche, das ihnen widerfuhr, nie gesprochen. Zum Glück gab es einen begnadeten Geschichtenerzähler in der fernen Verwandtschaft, Großonkel Fernando, der war Theatermann und sogar Zirkusclown gewesen, hatte KZ und Gulag überlebt und danach dem wissbegierigen Kind Ari und seinem Zwillingsbruder die ganze Familiengeschichte weitergegeben. So gelangte sie auch bis zu Gabi Gleichmann.

Gabi Gleichmann: Das Elixier der Unsterblichkeit. Roman. Aus dem Norwegischen von Kerstin Hartmann und Wolfgang Butt. Carl Hanser Verlag. 672 S., geb., 26 €.

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