Ärzte ohne Papiere

Kieler Koalition will bessere medizinische Versorgung

  • Lesedauer: 3 Min.

Millionen wären nötig, 200 000 Euro stehen bereit – das darf man wohl als Tropfen auf den heißen Stein bezeichnen. Trotzdem ist es ein richtungsweisendes Signal, das von der Kieler Landesregierung kommt, wenn es darum geht, Menschen aus behördlichem Verständnis mit eigentlich illegalem Aufenthaltsstatus, also ohne Papiere, in eine reguläre Krankenversorgung zu integrieren.

Wie dick die Bretter sind, die es zu durchbohren gilt, zeigt die Tatsache, dass erste Bemühungen für eine systematische anonyme Krankenversorgung vor acht Jahren gestartet wurden. In der vorhergehenden Legislaturperiode scheiterte ein gemeinsamer entsprechender Antrag von Grünen und LINKEN an den übrigen Fraktionen. 2012 tauchte genau dieses Ziel im Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und Südschleswigschem Wählerverband auf. Nun ist im Etat des Sozialministeriums erstmals dieser sechsstellige Betrag eingestellt.

Auf einer Veranstaltung der Grünen wurden Ideen gesammelt, wie die vorhandene Summe im nördlichsten Bundesland verteilt werden soll. Dabei wird kein Weg am Medibüro Kiel vorbeigehen. Die Anlaufstelle ist eine von bundesweit 32 gleichartig arbeitenden Einrichtungen unter dem Namen. Die bislang ehrenamtlich getragene Dienstleistung in Kiel funktioniert wie eine Lotsenstation, indem Hilfesuchende bei Wahrung jeglicher Anonymität bestmöglich mit medizinischer Hilfe zusammengebracht werden. Dafür steht ein Pool an Allgemein-, Fach- und Zahnärzten zur Verfügung, dazu Hebammen, eine Apotheke und Dolmetscher, die alle honorarfrei agieren. Der Zulauf ist immens, so dass das Medibüro einen Aufruf gestartet hat, dass sich speziell mehr gynäkologische Praxen in diesem Versorgungslückenfeld engagieren mögen.
Die medizinische Hilfe sollte eigentlich für jeden Arzt selbstverständlich sein, genau wie Krankenversorgung ein Menschenrecht ist. Die Schweigepflicht sichert Ärzte ab. Ehrenamtlichkeit stößt aber an Grenzen. Sobald ein Abrechnen über Sozialämter erfolgt, etwa nach Operationen, sind diese gesetzlich verpflichtet, die Personalien der Patienten ohne Papiere der Ausländerbehörde zu melden, was Betroffene davor zurückschrecken lässt, sich mit ihrem Gesundheitsproblem zu offenbaren. Das wiederum lässt auftretende Krankheitsbilder nicht selten erst zu chronischen Fällen oder Notfällen werden, die der Gesellschaft volks- wie betriebswirtschaftlich sogar mehr kosten. Experten gehen bundesweit von 500 000 bis zu einer Million Menschen ohne Papiere aus.

Im Flüchtlingszentrum Hamburg wird in diesem Themenfeld über eine Clearingstelle gearbeitet. Dafür standen zuletzt drei Jahre lang 500 000 Euro für einen Notfallfonds bereit. Schleswig-Holstein ist das erste Flächenland, das dort anknüpfen will. Aktivisten in der Flüchtlingsarbeit schätzen allein für Berlin, dass eine auskömmliche Gesundheitsversorgung im anonymen Bereich pro Jahr fünf Millionen Euro kostet. Das relativiert den Betrag im hohen Norden, erlaubt aber auch die Frage, ob Krankenkassen für eine adäquate Finanzierung herangezogen werden müssten.

Fraglich ist, wie die Mittel in Schleswig-Holstein verteilt werden – per landesweitem Gießkannenprinzip oder an bestehende Einrichtungen, zu denen auch »Praxis ohne Grenzen« mit seinen sechs Anlaufpunkten im Land gehören könnte. Dort sind Patienten ohne Krankenversicherung »Tagesgeschäft«. Hier ist zuletzt wie im Kieler Medibüro ein Anstieg hilfesuchender EU-Bürger ohne Versicherungsstatus festzustellen.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal