Musikalischer Luxusdampfer

Hidden Cameras

  • Michael Saager
  • Lesedauer: 2 Min.

Die gute Nachricht lautet: Die Hidden Cameras sind wieder da. Wie »Origin: Orphan« aus dem Jahr 2009 ist auch »Age« so etwas wie ein musikalischer Luxusdampfer auf großer Gefühlsfahrt - hochfahrend pathetisch, melancholisch bombastisch, zum Sterben schön. Die Nähe zum Kitsch ist kein Versehen, sie ist dem Kalkül gnadenloser Überwältigung geschuldet.

Hibbelig verspielt geht’s halt nicht mehr zu seit »Awoo« (2006), auf dem der kanadische Wahl-Berliner Joel Gibb mit seinem lose zusammengestellten Kollektiv ein letztes Mal hippieeske Folkpop-Laune verströmen lässt, während er auf der Textebene gemeinsam mit den Wölfen den Mond anheult und die Schönheit der Natur feiert. Ja, der Mann ist auch ein mittelschwerer Mystiker, nicht bloß eine »Gay-Ikone«. Offen sang Gibb schon über seinen schwulen Alltag, über Körperlichkeit, Gerüche, Vaseline und Analduschen und holte schwulen Sex aus der ihm in einer heterosexuell normierten Welt zugedachten Schmuddelecke. Das irritierte manchen Hetero und erfreute die Gay-Community. Dass der grau melierte Gibb erwiesenermaßen auch zum Coverboy des Berliner Schwulenmagazins »Siegessäule« taugt, passt hervorragend.

Und wenn - gleichzeitig mit dem Abstumpfen und dem Zynismus - die Sentimentalität mit dem Alter nun doch wächst? Dann ist »Age« das Album für jenen Kick melancholischer Glückseligkeit, den man sich am besten morgens abholt, wenn Kopf und Körper wieder frei sind und die Gedanken noch einigermaßen unschuldig. Was für ein herrlich barockes Dickicht aus Streichern, Posaunen und Waldhörnern! Ab jetzt gibt’s nur noch f-moll, der kraftspendenden Tragik wegen. Ach, und der sympathische Chilly Gonzales spielt Piano zu Gibbs so angenehm vernöltem, bisweilen metallisch verfremdetem Bariton - was will man mehr? Nichts, aber man bekommt es trotzdem.

Textlich und musikalisch konzipiert als persönliches Coming-of-Age-Album, als Album des Erwachsenwerdens, sucht »Age« erste Erfahrungen, das Tasten sexuellen Erwachens, »skin and leather«, »the pressure«, »the pleasure«; es zitiert den Drumbeat von Bauhaus’ düsterem Wave-Klassiker »Bela Lugosi’s Dead«, verwandelt sich auf »Crape Juglar« spontan in einen aufgeräumten John Maus.

So überwältigend hymnisch und auf schwermütige Weise lebensbejahend »Age« ist, so erschreckend, gleichwohl banal böse sind die Jungs im Video von »Gay Goth Scene«, die einen androgyn ausschauenden, vermutlich schwulen Mitschüler geradewegs in den Suizid mobben. Die Adoleszenz kennt viele unglückliche Geschichten. Diese hier im Video ist besonders schlimm. Sie wiederholt sich Tag für Tag. Das ist die schlechte Nachricht.

The Hidden Cameras spielen am 3.2. um 20 Uhr im Berliner Hebbel am Ufer (HAU 1). Das Album »Age« ist bei Evil Evil/Alive erschienen.

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