Visionen dringend gesucht!

Zum Abschluss der Berliner Filmfestspiele: Die Bären

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Jedes Jahr das gleiche Spiel: Wer bekommt eigentlich die Preise? Natürlich, immer die falschen. Aber wer wären denn die richtigen gewesen? Darüber können sich die vielstimmigen Kritiker der Prämierten dann auch niemals einigen. Etwas von Lotterie scheint also immer dabei.

Fakt ist, es gibt - jedes Jahr aufs Neue - einen Drang der Festivaljury, Filme zu prämieren, die niemand auf der Liste hatte. Man kann das Profilneurose nennen. So hat in den vergangenen Jahren niemals der Film gewonnen, den Publikum und Kritiker zuvor zum Favoriten erklärt hatten Was sagt uns das? Preise sind nichtöffentliche Konsensentscheidungen einer Jury; da fällt das Besondere schnell unter den Tisch.

Berlinale-Preise: Abseits von Gold und Silber

Neben den Hauptpreisen der Berliner Filmfestspiele wurden am Wochenende noch zahlreiche andere Auszeichnungen vergeben. In der Kategorie »Bester Erstlingsfilm« gewann »Güeros«, eine mexikanische Coming-of-Age Komödie von Alonso Ruizpalacios.

Den Preis der Ökumenischen Jury erhielten »Kreuzweg« von Dietrich Brüggemann, »Calvary«, eine von John Michael McDonagh gedrehte Tragikomödie über das Thema sexueller Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche in Irland, sowie »Sto spiti« von Athanasios Karanikolas, der in seinem Film die Folgen der Wirtschaftskrise in Griechenland anhand des Schicksals einer Haushälterin zeigt.

Der Gläserne Bär der Jugendjury im Wettbewerb »Generation 14Plus« ging an den australischen Film »52 Tuesdays« von Sophie Hyde. Die Regisseurin reflektiert darin anhand eines Lebensjahres einer 16-Jährigen den schwierigen Prozess des Erwachsenwerdens zwischen ersten sexuellen Erfahrungen und allmählicher Loslösung vom Elternhaus. Den Gläsernen Bären der Kinderjury im Wettbewerb »Generation KPlus« erhielt die indische Produktion »Killa von Avinash Arun. Auch hier geht es um die ersten Gehversuche von Kindern hinein in die Welt der Erwachsenen: Ein Junge aus der Großstadt zieht nach dem Tod seines Vaters mit der Mutter aufs Land und muss lernen, seinen eigenen Weg zu finden.

Bereits am vergangenen Freitag wurde der Schwul-Lesbische Teddy Award verliehen. Ihn erhielten gleich drei Filme: »Hoje eu quero voltar sozinho« (Daniel Ribeiro, Brasilien; erzählt wird die Beziehungsgeschichte zweier Schüler), »Der Kreis« (Stefan Haupt, Schweiz; Travestie-Star setzt sich nach dem Zweiten Weltkrieg für die Emanzipation der Schwulen ein) und »Mondial 2010« (Roy Dib, Libanon; Homosexualität im Mittleren Osten). nd

In diesem Jahr hat sich die Jury in Sachen Absonderlichkeit selbst übertroffen. Aber zufällig kann man die Entscheidungen dann doch nicht nennen, denn in der achtköpfigen Jury unter Vorsitz des amerikanischen Produzenten James Schamus saßen gleich drei Produzenten. Wer wissen will, wie Produzenten die Welt der Filme sehen, den erinnere ich an Jean-Luc Godards »Die Verachtung«. Außerdem saß auch der chinesische Schauspieler Tony Leung in der Jury - und wen wundert dann noch, dass dies plötzlich im Spiegel der Hauptpreise eine Berlinale des asiatischen Films gewesen sein soll?

Bis fünf Minuten vor der Bärenvergabe wäre niemand angesichts der zwanzig Filme des Wettbewerbs darauf verfallen! Mehr noch: In den vergangenen Jahren schien das asiatische Kino spürbar stärker. Und nun erhält ausgerechnet ein Thriller (!) aus China über den Serienmord in einer chinesischen Provinzstadt, »Bai Ri Yan Huo« von Diao Yinan, nicht nur den Goldenen Bären für den besten Film, sondern gleich noch den Preis für den besten Hauptdarsteller dazu. Kein Autorenfilm wurde hier prämiert, sondern ein Produkt - und China ist ein riesiger Markt. Da stellt sich ein schaler Nachgeschmack ein. Nach der Verleihung gefragt, was dieser Preis in China bedeute, antwortete der Regisseur dann ziemlich kaltschnäuzig, es sei doch ganz egal, wo man Preise bekomme. Schönes Kompliment für die Berlinale!

Überhaupt war der Wettbewerb insgesamt überaus schwach. Es gab keine Filme aus Osteuropa oder Afrika. Und jene aus Lateinamerika wie der argentinische Beitrag »Historia del miedo« über die Hysterien der Oberklasse oder das schwule Rettungsschwimmer-Epos »Praia do Futuro« aus Brasilien waren filmisch unausgereift. Und der Texaner Richard Linklater, der auf der Berlinale »Boyhood« vorstellte, an dem er zwölf Jahre gearbeitet hat? Ein grandioser Beitrag, der den Alltag einer amerikanischen Patchwork-Familie zeigt, die vor der Kamera altert. Vielleicht hat er inzwischen bereut, damit nicht zu den Festivals in Cannes oder Venedig gegangen zu sein, denn dort laufen die innovativen Filme, nicht in Berlin. Linklater bekam zwar einen Silbernen Bären für die Beste Regie, aber das ist zu wenig für diesen einmaligen Film.

Mit Jury-Schelte halten sich die Kritiker-Kollegen der großen Medien auffallend zurück, die »Zeit«-Kritikerin Katja Nicodemus, Kommentatorin der 3-Sat-Übertragung der Preisvergabe, gebärdete sich gar wie die Pressesprecherin der Jury und fand deren Urteile »salomonisch«. Aber der Berlinale-Wettbewerb ist gerade dabei, seinen ohnehin lädierten Ruf ganz zu verlieren - immerhin ließ auch Lars von Trier sein furios-genialisches Machwerk »Nymphomaniac« nur aus Ärger über Cannes und dann auch noch außer Konkurrenz im Wettbewerb der Berlinale laufen.

Diese zunehmende Abstinenz hat Gründe. Sie liegen auch in Dieter Kosslicks Art, die Berlinale als Publikumsfestival zu betreiben und - vereint mit dem Party-Rudiment vergangener Zeiten, dem Berliner Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit - auf penetrante Weise um den Besuch von Hollywoodgrößen in Berlin zu buhlen und betteln. Das führt dann nicht nur zu dem Auftritt von George Clooney, sondern auch zur Platzierung seines Mainstream-Produkts »The Momuments Men« über eine Gruppe amerikanischer »Kunstschutzoffiziere«, die 1945 Kunstschätze auf deutschem Boden für die freie Welt retten, im Wettbewerb (außer Konkurrenz).

Solche Peinlichkeiten sprechen sich unweigerlich herum. Und so hat das Prinzip »Mehr Masse (330 000 verkaufte Tickets, wieder ein Rekord) als Klasse« einen fatalen Preis. Wie der aussieht, zeigte die Vergabe des Silbernen Bären für einen Film, der »neue Perspektiven eröffnet« (Alfred-Bauer-Preis), den ausgerechnet der inzwischen 92-jährige Alain Resnais für »Aimer, boire et chanter« bekam und den der Regisseur vor einem halben Jahrhundert unbedingt verdient gehabt hätte. Überall also Kompromisse und Kalküle, die dem Film an sich nicht gut tun.

So also wurden die asiatischen Filme, mit zahlreichen Trophäen geschmückt, an die Kinokasse dieser boomenden Weltgegend geschickt - ob das die Aufgabe der Berlinale ist, darf man bezweifeln. Immerhin bekam Wes Andersons wunderschön pittoreskes »The Grand Budapest Hotel« den »Großen Preis der Jury«, der als Trostpreis erster Klasse gilt.

Noch einen Trostpreis gab es für das deutsche Kino, das mit vier Filmen im Wettbewerb vertreten war: Die Geschwister Anna und Dietrich Brüggemann bekamen für »Kreuzweg« den Silbernen Bären für das Beste Drehbuch. Für mich war »Kreuzweg« - die Passion eines vierzehnjährigen Mädchens in einer katholisch-fundamentalistischen Familie - der Film im Wettbewerb, der mich am meisten berührt hat. Und bei solchen Gelegenheiten spürte man dann das eigentliche Problem des Berlinale Wettbewerbs (nicht das der Nebenreihen, dort herrscht noch echte Festivalatmosphäre!) - er füllt eine zunehmende emotionale Leere mit immer mehr äußerem Glanz und Rotem-Teppich-Pomp.

Oder ist es umgekehrt so, dass der Wille zur Show von Stars und Sternchen zu dieser inneren Entleerung des Wettbewerbs führte? Und für wen wird das eigentlich veranstaltet? Wer sich stundenlang nach Karten für so »kleine« Dokumentationen wie »Anderson« über Sascha Anderson, »Der Anständige« über Heinrich Himmler oder über den kettenrauchenden Michel Houllebecq anstellte (großartig wie immer die Panorama-Reihe!), der war wohl nicht gekommen, einen flüchtigen Blick auf George Clooney zu werfen, sondern wichtige Filme zu sehen, die dann oft keinen kommerziellen Filmverleih finden und nie ins Kino kommen.

Beim traditionellen Filmgespräch im Anschluss des Himmler-Films, der auf Basis des in Israel entdeckten Ehebriefwechsel von SS-Chef Heinrich Himmel mit seiner Frau gedreht wurde, kam es auch zur innig-herzlichen Begegnung Katrin Himmlers, der Großnichte Heinrich Himmlers, die aus dem Anti-Nazi-Zweig der Familie Himmler kommt (sie hat auch ein Buch darüber geschrieben), mit der israelischen Regisseurin Vanessa Lapa, die viele Familienangehörige in den Nazi-Vernichtungslagern verlor. So etwas kann nur die Berlinale: Geschichte und Geschichten hautnah zeigen - abseits des Roten Teppichs.

Nach dieser Berlinale und den Entscheidungen der »Produzenten-Jury« steht die Berlinale mehr denn je am Scheideweg. Doch es wird wohl nicht mehr an Festivalchef Dieter Kosslick (seit 2001) sein, notwendige Zukunfts-Entscheidungen zu treffen, denn sein Vertrag läuft in zwei Jahren aus. Besonders der Wettbewerb braucht neue Visionen!

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