EU-Außenminister beschließen Sanktionen gegen ukrainische Führung

Mindestens 60 Tote bei neuen Zusammenstößen in Kiew/ Waffenruhe gebrochen / EU-Außenminister bei Janukowitsch / Kiewer Verwaltungschef verlässt aus Protest Janukowitsch-Partei/ 67 Polizisten gefangen genommen

  • Lesedauer: 6 Min.
Die ukrainischen Sicherheitskräfte haben nach Angaben von Innenminister Vitali Sachartschenko Schusswaffen für den »Anti-Terror-Einsatz« erhalten.

Kiew. Die Außenminister der Europäischen Union haben Sanktionen gegen die politische Führung der Ukraine beschlossen. Die italienische Außenministerin Emma Bonino sagte nach einem Treffen in Brüssel am Donnerstag, man werde »sehr schnell« die Sanktionen umsetzen. Einreiseverbote und Kontensperrungen richteten sich gegen die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen und Gewalt.

Bei den Unruhen in Kiew sind nach Angaben der Opposition allein am Donnerstag mehr als 60 Menschen durch Schüsse getötet worden. Das sagte der Leiter der medizinischen Dienste der Opposition, Swjatoslaw Chanenko, der Nachrichtenagentur AFP in Kiew. »Mehr als 60 Demonstranten wurden getötet, alle durch Kugeln«, sagte Chanenko. Das Ministerium meldet unterdessen, dass 67 Polizisten gefangen genommen wurden.

Die ukrainischen Sicherheitskräfte haben nach Angaben von Innenminister Vitali Sachartschenko Schusswaffen für den »Anti-Terror-Einsatz« erhalten. Die Waffen dürften in Übereinstimmung mit dem Gesetz mit scharfer Munition eingesetzt werden, sagte Sachartschenko nach einer am Donnerstag verbreiteten Mitteilung. Zugleich forderte der Minister die Regierungsgegner auf, ihre Waffen niederzulegen und zu friedlichem Protest zurückzukehren. Die Oppositionsführer müssten sich von »radikalen Handlungen« distanzieren.

»Auf den Straßen werden nicht nur Einsatzkräfte, sondern auch friedliche Bürger getötet, in Kiew und westlichen Regionen haben gewaltsame Ausschreitungen begonnen«, heißt es in der Mitteilung. Mehrere Milizionäre seien von radikalen Kräften gefangen genommen worden. Allein am Donnerstag seien drei Mitglieder von Polizei und Innentruppen erschossen und mehr als 50 verletzt worden, hatte das Ministerium zuvor mitgeteilt. Aufseiten der Regierungsgegner war nach unbestätigten Angaben von Dutzenden Toten die Rede.

Währenddessen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch gedrängt, die Hilfe Deutschlands und anderer Länder bei einer Vermittlung in der Krise zu akzeptieren. In einem Telefonat mit Janukowitsch habe Merkel »die Bereitschaft der EU, Deutschlands und weiterer Partner« erklärt, »Gespräche von Regierung und Opposition zu unterstützen«, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert am Donnerstag in Berlin mit. Sie habe dem ukrainischen Staatschef »dringend« dazu geraten, »dieses Angebot anzunehmen«. Jedes »Spiel auf Zeit« werde den Konflikt weiter anheizen und berge unabsehbare Risiken.

Gespräche sollen schnelle Lösung des Konflikts bringen

In dem Telefonat gab Merkel der ukrainischen Staatsführung den Angaben zufolge die »Hauptverantwortung« für die Gewalt. Sie verurteilte die jüngsten Eskalationen in der Ukraine scharf. Alle Seiten müssten unverzüglich von Gewalt Abstand nehmen und die vereinbarte Waffenruhe umsetzen, forderte die Kanzlerin. Nur Gespräche mit schnellen, greifbaren Ergebnissen bei der Regierungsbildung und der Verfassungsreform böten die Chance zu einer nachhaltigen Lösung des Konflikts.

In einer dramatischen Ansprache hat auch der Chef der Kiewer Stadtverwaltung von Präsident Viktor Janukowitsch ein Ende des Blutvergießens in der ukrainischen Hauptstadt gefordert. »Menschliches Leben muss der höchste Wert im Staat sein«, sagte Wladimir Makejenko (48) am Donnerstag. Dabei verkündete er seinen Austritt aus der regierenden Partei der Regionen. Die Parlamentsabgeordneten forderte er auf, sich als lebende Schutzschilde zwischen die Fronten zu stellen.

»Keine Macht ist das Leben von Menschen wert, kein Oligarch ist gestorben, nicht ein Politiker«, betonte der Politiker. Verwaltungschef Makejenko war erst am 25. Januar von Janukowitsch eingesetzt worden. Das rein repräsentative Amt des Bürgermeisters ist seit Juli 2012 unbesetzt.

Waffenruhe gebrochen

In der Ukraine hat die vereinbarte Waffenruhe keine zwölf Stunden gehalten. Bei schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften wurden seit Donnerstagmorgen in der Hauptstadt Kiew mindestens 25 Menschen getötet, wie AFP-Reporter berichteten. Zeitgleich versuchten die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens bei einem Besuch in Kiew in dem Konflikt zu vermitteln.

Allein auf dem zentralen Unabhängigkeitsplatz Maidan sind nach Aussage eines Mediziners mindestens 13 Menschen getötet worden. »Jeder wurde mit einer einzigen Kugel erschossen«, sagte der Arzt Dmitri Kaschin am Donnerstag der Agentur Interfax. Auch die renommierte Medizin-Professorin Olga Bogomolez betonte, offenbar seien Scharfschützen auf der Jagd nach Regierungsgegnern. In anderen Medienberichten war von mindestens 35 Toten die Rede. Offizielle Bestätigungen lagen zunächst nicht vor.

Zu dem Vermittlungsgespräch im Präsidentenamt seien weder Journalisten noch TV-Kameras zugelassen, berichtete ein dpa-Reporter am Donnerstag aus dem Begleittross von Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Nach unbestätigten Angaben gab es am Morgen Dutzende Tote.

Schwere Auseinandersetzungen

Nur wenige Stunden nach einem vereinbarten Gewaltverzicht kam es am Donnerstag im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt wieder zu schweren Auseinandersetzungen. Korrespondenten der englischsprachigen Zeitung »Kyiv Post« berichteten von mehr als 30 Toten seit dem Morgen. Die Agentur Interfax meldete, an einer Bushaltestellen am Unabhängigkeitsplatz lägen 13 Tote. Offizielle Bestätigungen lagen zunächst nicht vor.

Radikale Demonstranten drangen ins Regierungsviertel vor und vertrieben die Sicherheitskräfte, wie örtliche Medien berichteten. Das Kabinettsgebäude sowie das Parlament seien von den Sicherheitskräften überstürzt geräumt worden. Die für Donnerstag und Freitag geplanten Parlamentssitzungen wurden abgesagt. Anführer der Regierungsgegner riefen die Demonstranten auf, zu den Barrikaden zurückzukehren.

Der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko machte die Polizei für den Bruch des vereinbarten Gewaltverzichts verantwortlich. »Wir sehen die Situation außer Kontrolle«, sagte Klitschko am Donnerstagmorgen nach einem Treffen mit den westlichen Außenministern. Steinmeier wird von den Außenministern des sogenannten Weimarer Dreiecks, Laurent Fabius aus Frankreich und Radoslaw Sikorski aus Polen, begleitet.

Regierung müsse umgebildet werden

Derweil haben sich Dutzende Abgeordnete der ukrainischen Regierungspartei angesichts der tödlichen Auseinandersetzungen in Kiew für eine Beteiligung der Opposition an der Macht ausgesprochen. So solle aus den Reihen der Regierungsgegner das einflussreiche Amt des Parlamentspräsidenten besetzt werden. Das teilte der frühere Vizeregierungschef Sergej Tigipko am Donnerstag stellvertretend über Facebook mit.

Zudem müsse die Regierung umgebildet werden. Der neue Ministerpräsident müsse die Unterstützung aller Fraktionen im Parlament haben. Es solle auch eine Untersuchungskommission geben, die die Gewalttaten aufklärt. Innerhalb der regierenden Partei der Regionen von Präsident Viktor Janukowitsch sei eine Anti-Krisen-Gruppe geschaffen worden. Die Opposition fordert eine Sondersitzung des Parlaments noch für Donnerstag.

Am Nachmittag wollen die Außenminister der 28 EU-Staaten in Brüssel über Sanktionen gegen die Verantwortlichen der Gewalt in den vergangenen Tagen beraten. Die ukrainische Führung warnte die Europäische Union mit Nachdruck vor Strafmaßnahmen. »Sanktionen würden die Situation verschärfen, sie wären Öl ins Feuer«, sagte Präsidialamtschef Andrej Kljujew in Kiew. »Bei Sanktionen droht die Gefahr, dass das Land in zwei Teile zerbricht.«

Mindestens 28 Tote und 1000 Verletzte

Gemeinsam mit zwei anderen Oppositionspolitikern hatte Klitschko sich erst am Vorabend mit Präsident Janukowitsch auf den Gewaltverzicht geeinigt. Die radiale Oppositionsgruppierung Rechter Sektor teilte aber mit, diese Abmachung nicht anzuerkennen. Bereits am Dienstag war es zu schweren Straßenschlachten gekommen. Dabei waren mindestens 28 Menschen getötet und wohl mehr als 1000 verletzt worden.

Regierungsgegner und Behörden warfen sich am Donnerstagmorgen gegenseitig vor, wieder gezielt aufeinander zu schießen. Dabei seien am Donnerstag mindestens 23 Einsatzkräfte verletzt worden, teilte das Innenministerium mit. Radikale Kräfte auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) nahmen nach eigenen Angaben einen Scharfschützen der Polizei gefangen. Protestierer stürmten den Oktoberpalast, ein Kulturzentrum.

Über dem Maidan standen wieder schwarze Rauchsäulen von brennenden Reifenbergen. Sirenen von Dutzenden Krankenwagen heulten. Unbestätigten Berichten zufolge liefen Dutzende Mitglieder der Einheiten des Innenministeriums zu den Regierungsgegnern über.

Die Proteste hatten im November begonnen, nachdem Janukowitsch ein unterschriftsreifes Abkommen mit der Europäischen Union gestoppt und sich Russland zugewandt hatte. Moskau gewährte dem finanziell klammen Nachbarn daraufhin Milliardenkredite. Die Opposition fordert, dass die Vollmachten des Präsidenten zugunsten von Regierung und Parlament eingeschränkt werden. Außerdem verlangen sie Neuwahlen. Agenturen/nd

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