Urlaub unter »Palmen«

Oldenburg, die deutsche Kohltourhauptstadt bietet mehr als Grünkohl

  • Alexander Richter
  • Lesedauer: 5 Min.

Berlin feiert die größte Silvestersause Europas, München hat sein Oktoberfest, und Köln ist jetzt wieder »janz jeck« im Karneval. Und was hat Oldenburg? Die als »Übermorgenstadt« seltsam beworbene drittgrößte Kommune Niedersachsens muss nicht bis morgen warten, um gemütlich und witzig zu sein. Auch wenn sie bei Städtereisen nicht unbedingt in der ersten Reihe steht. Oldenburg hat ›ne ganze Menge zu bieten. Jetzt in der nass-kalten Jahreszeit vor allem Zweierlei: Grünkohl und Boßeln.

Besuchen wir also die selbsternannte Kohltourhauptstadt. Der Taxifahrer weiß mal wieder Bescheid: »Grünkohl braucht Frost, sonst schmeckt der nicht«, posaunt er und wird von dem Koch und Gastwirt Erwin Abel, der jedes Jahr in Berlin der Prominenz das traditionelle »Defftig Ollnborger Gröönkohl-Äten« auftischt, schnell widerlegt: »Der meiste Grünkohl, auch der von unseren Feldern, kommt heute als Tiefkühlware in die Töpfe: Da hat sich das mit den Minusgraden draußen schnell erledigt.«

Oldenburg in Oldenburg: Diese Dopplung ist wichtig - denn es kämpft auch noch ein Oldenburg in Holstein um seine Existenzberechtigung auf der Landkarte. Das im hohen Norden (am Ende der A1) ist freilich viel kleiner und kann von einem ICE-Halt - anders als die Kohltourhauptstadt - nur träumen.

Die glänzte einst als Residenzstadt und hat von diesem Glimmer noch reichliche Prisen in die Jetztzeit hinübergerettet: ein Sechs-Sparten-Theater, eine prachtvolle Museumslandschaft, ein Schloss, 160 000 Oldenburger und gefühlt doppelt so viele Fahrräder, eine junge, erst 40-jährige Uni, die älteste noch genutzte Turnhalle Deutschlands aus dem Jahre 1871, eine bunt gemischte Einkaufszone mit vielen kleinen individuellen Läden, die auch Käufer aus dem platten Land anziehen. Einen berühmt-lebendigen Sohn der Stadt hat Oldenburg mit TV-Promi Dieter Bohlen, der hier zur Welt kam und zur Schule ging.

Das vitaminreiche Wintergemüse, das bis in den März hinein Saison hat und an der örtlichen Uni auch wissenschaftlich erforscht wird (es soll u. a. Wirkstoffe gegen Krebs enthalten), wächst und gedeiht auf den Feldern um Stadt und Landkreis, wird hier verarbeitet und sehr oft als Tiefkühlprodukt oder Konserve bundes- und weltweit vermarktet. Einer, der alles weiß über das Gemüse, ist Bauer Reinhard Lühring, ein Ostfriese, wie er treffender nicht gemalt werden könnte. Der rote Wuschelkopf mit den stahlblauen Augen macht sich um das kulinarische Erbe einer ganzen Region verdient - da verzeihen die Oldenburger sogar seine Herkunft.

Mit dem Motorrad kurvt der Bauer kreuz und quer durch Friesland, spürt historische Sorten des grünen Gemüses auf, züchtet sie und verkauft später das Saatgut. Rund 30 alte Pflanzen, die er mit Fantasienamen wie »Winnetou« oder »Halbhoher Krauser« schmückt, hat er bereits vor dem Aussterben gerettet. Viele von ihnen können in einem Schaubeet des Botanischen Gartens bestaunt werden. Da gibt es Grünkohl, der lässt die »Palme des Norden« bis zu zwei Meter hoch wachsen. Wer behauptet da, man muss ewig weit fliegen, um Urlaub unter Palmen zu machen?

Beim Boßeln, einem Kugelspiel im Freien, kommt zusätzlich Laune auf. Ziel des Mannschaftssports ist es, eine gut 1500 Gramm schwere Kunststoffkugel mit möglichst wenigen Würfen zu einem festgelegten Ziel in bis zu zehn Kilometer Entfernung zu rollen, zu schleudern, zu werfen - fast alles ist erlaubt. Gespielt wird auf Feldern, Wiesen, Wegen. Das Ganze ist im Oldenburger Land und drumherum ein ernsthafter Sport mit 250 Vereinen, Liga-Spielen bis hin zur Deutschen Meisterschaft und Europameisterschaft. Holländer, Iren und Italiener boßeln auch gern, wobei die Iren die trinkfreudigsten sind in der »Nachbesprechung« und die Italiener die schönsten Kugeln, nämlich aus Marmor haben. Die Champions indes kommen aus Deutschland, wobei es die Oldenburger schon wurmt, dass ein Ostfriese den Weitenweltrekord mit deutlich über 100 Metern hält.

Nach dem Spiel trifft man sich dann zum »Gröönkohlessen« - und das wird richtig zelebriert. Nach klassischer Art schmeckt’s am besten: Grünkohl, Schweineschmalz, Zwiebeln, Brühe, Senf, Zucker Hafergrütze. Dazu gibt es Salzkartoffeln, Pinkel, sowie Mett- oder Kochwurst und Kassler. Danach ist man platt und braucht dringend einen Korn oder auch zwei zur Verdauung.

Alles über Grööönkohl lernt man übrigens auf Deutschlands erster und einziger Grünkohl-Akademie: Da gibt es kolhlossale Kohloquien zur Kohltourgeschichte, zur Kohlografie und sonstigem koohlen Kram. Es gibt sogar ein Zertifikat für die bestandene Prüfung.

Überhaupt wird in Oldenburg rund um das Wintergemüse viel Aktion geboten: Als norddeutscher Wintersport und geselliger Höhepunkt der »fünften Jahreszeit« gilt die Kohlfahrt raus ins frostige Freie mit geschmückten Bollerwagen und allerlei neckischen Spielchen, die man natürlich mit einem Schnaps besser erträgt. Man kann sich bei Grünkohl-Kochkursen in der Volkshochschule (z. B. »Thai-Kohl« oder »Grünkohllasagne«) inspirieren lassen und den Lieben daheim eine Kohlpraline mitbringen, die Chocolatier Christian Klinge mit rotem Pfeffer und viel Kakao kreiert hat. Ganz große Grünkohlfans können Grünkohlspezialitäten sogar fix und fertig online ordern. Es soll sogar Kunden in den USA und in Südafrika geben.

Infos:

www.oldenburg-tourist.de - u.a. wird eine Stadtführung als City-Boßel-Tour angeboten (sechs Euro pro Pers.)
www.kohltourhauptstadt.de
www.gruenkohl-akademie - hier gibt es Infos rund um die »Oldenburger Palme«
Online-Versand: www.gruenkohl-mit-pinkel.de und www.meerpohl.de
Grünkohl-Pralinen: www.cafe-klinge.de

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