Misstrauen schlägt auch den neuen Amtsträgern entgegen

Die Sicherung des Machtwechsels in Kiew wird für den Westen mit hohen Kosten verbunden sein

  • Manfred Schünemann
  • Lesedauer: 4 Min.
Der »Machtwechsel« in der Ukraine gilt als vollzogen. Wer aber ist nun im Besitz der »Macht«? Und in welche Richtung führen die neuen Machthaber das Land?

Die Machtbasis von Viktor Janukowitsch ist zerbrochen. Die bisherige Opposition nutzte das entstandene Vakuum und begann unverzüglich mit der lange vorbereiteten Machtübernahme, die von einer neuen Parlamentsmehrheit (übrigens mit den Stimmen der ukrainischen Kommunisten) am Wochenende formal vollzogen wurde. Wie der zurückhaltende Empfang der frei gelassenen Julia Timoschenko auf dem Kiewer Maidan zeigte, misstrauen große Teile der Protestbewegung aber auch den neuen Funktionsträgern aus den Reihen der Parlamentsparteien.

Vor allem lehnen es die gewaltbereiten, nationalistischen Gruppierungen des »Rechten Sektors« ab, ihre Positionen freiwillig zu räumen. Sie fordern ein weitgehendes Mitsprache- und Kontrollrecht bei der Schaffung neuer Machtstrukturen. Es muss sich also erst noch zeigen, ob die Führungen der bisherigen parlamentarischen Opposition in der Lage und Willens sind, den militant-nationalistischen Flügel der Protestbewegung unter Kontrolle zu halten. Bisher gab es jedenfalls keine klare Abgrenzung von den militanten Gruppierungen. Im Gegenteil, durch die Zusammenarbeit mit der national-konservativen Partei »Swoboda« nahmen die Parteien Vitali Klitschkos und Julia Timoschenkos und deren westliche Ratgeber das Mitwirken gewaltbereiter Kräfte billigend in Kauf. Ohne Isolierung dieser Gruppierungen, einschließlich ihrer Entwaffnung, wird jedoch eine wirkliche Stabilisierung der Lage kaum möglich sein.

Tatsächlich ist der Machtwechsel in Kiew längst nicht vollendet, zumal er noch einer gesamtnationalen Legitimation bedarf. Eingeleitet wurde jedoch eine grundlegende Neuorientierung der Innen- und Außenpolitik der Ukraine, die zu einer Neubestimmung ihres Platzes im europäischen Staatengefüge mit weitreichenden Folgen für das regionale und europäische Kräfteverhältnis führen kann. 2004/05, als mit der »Revolution in Orange« schon einmal der Versuch einer solchen Neuausrichtung unternommen worden war, scheiterten dessen politische Köpfe schmählich. Diesmal werden die Träger der Veränderungen - massiv unterstützt von Seiten der USA und der EU - ein neuerliches Scheitern mit allen Mitteln zu verhindern suchen. Wichtigstes Instrument dafür wird die vertragliche Anbindung an die EU durch eine schnellstmögliche Unterzeichnung der vorbereiteten Assoziierungsabkommen sein. Nicht auszuschließen ist aber auch ein neuer Anlauf zu einem Beitritt der Ukraine zur NATO, der sich wesentlich schneller (und kostengünstiger für den Westen) vollziehen ließe.

Mit den Veränderungen in Kiew hat der Westen ein wichtiges strategisches Ziel erreicht - den Beitritt der Ukraine zur von Russland dominierten Zollunion und zur geplanten Euroasiatischen Union dauerhaft zu verhindern. Das vom russischen Präsidenten Wladimir Putin initiierte Projekt eines eurasischen Integrationsraumes als gleichberechtigter Handels- und Wirtschaftspartner der EU dürfte ohne die Mitgliedschaft der Ukraine kaum zum Tragen kommen. Die russische Politik gegenüber der Ukraine und dem postsowjetischen Raum insgesamt hat damit einen deutlichen Rückschlag erlitten. Die weitere Entwicklung wird wesentlich davon bestimmt sein, wie und ob es Russland gelingt, seine Politik den neuen Realitäten anzupassen, auf politischen und wirtschaftlichen Druck gegenüber der Ukraine zu verzichten und nach Möglichkeiten zur gleichberechtigten Zusammenarbeit mit der Ukraine zu suchen.

Dabei kann Russland auf die vielfältigen wirtschaftlichen Bindungen zur Ukraine setzen, die auch künftig für die ukrainische Wirtschaft existenziell bleiben. Einen »völligen Bruch mit Moskau« kann sich allein aus ökonomischen Gründen keine ukrainische Führung leisten, zumal nicht klar ist, zu welchen finanziellen Hilfen die EU und die USA bereit sind, um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden.

Klar ist nur, dass die Sicherung des Machtwechsels in Kiew für den Westen mit hohen Kosten verbunden sein wird, die sicherlich zu einem großen Teil von Deutschland zu tragen sein werden. Unklar bleibt auch noch, ob und wie die ostukrainischen Gebiete künftig mit ihren speziellen Bindungen zu Russland umgehen werden. Wenngleich Abspaltungsbestrebungen nicht zu unterschätzen sind, erscheint es doch wahrscheinlicher, dass die ostukrainischen Gebiete künftig auf größere Autonomie in Politik und Wirtschaft drängen.

Das Ringen um den Platz der Ukraine im europäischen Staatengefüge ist mit den dramatischen Ereignissen vom Wochenende weder innen- noch außenpolitisch beendet, auch wenn sich die Rahmenbedingungen zugunsten der EU und des Westens verändert haben. Es wird sich nun sehr rasch zeigen müssen, ob hinter den vielfachen Erklärungen westlicher Politiker, darunter auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, man müsse besser als in der Vergangenheit die historisch gewachsenen Verbindungen zwischen der Ukraine und Russland beachten und die Interessen Moskaus berücksichtigen, mehr als nur taktische Überlegungen stehen. Für die Ukraine und die gesamte Region wird es dauerhafte Stabilität nur geben, wenn ein Weg gefunden wird, die Einbindung der Ukraine in die europäischen Integrationsstrukturen mit einer Partnerschaft zu Russland zu verbinden.

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