Der Maidan ist ein trauriger Ort

»Slava Ukraini«, »Slava Natsi«: Warum sich die Kiewer Kämpfer um ihren Sieg betrügen

  • Peter Schaber, Kiew
  • Lesedauer: 5 Min.
Wo liegt der Maidan? In Istanbul, in Athen, in Madrid? Oder auf einem ganz anderen Planeten? Kiewer Beobachtungen zwischen Widerstandshoffnungen, Heldenkult und imperialen Mühlsteinen.

Der Maidan zieht einen schnell in seinen Bann. Die Euphorie wenige Tage nach der Flucht Viktor Janukowitschs, die militanten »Selbstschutzkräfte«, die rund um die Uhr die hohen Barrikaden bewachen, die Blumen in der Hrushevskoho-Straße, die an die Toten der Straßenkämpfe erinnern. Jeder hier hat etwas zu erzählen. Von den noch immer unbekannten Scharfschützen auf dem Hotel »Ukraina«, vom ausgebrannten Gewerkschaftshaus, das als Hauptquartier des Aufstandes gedient hatte. Geschichten von Polizeigewalt und Widerstand.

Vieles erinnert an den Istanbuler Gezi-Park im vergangenen Juni. Etwa das Metallgerüst, das einen Weihnachtsbaum hätte stützen sollen und nun Hunderte Banner oppositioneller Organisationen trägt - auf dem Taksim-Platz sah es ähnlich aus. Die improvisierte Gesundheitsversorgung, die Essensausgabe, die Ästhetik des Widerstands um Gasmaske, Schutzbrille und Helm. Eigentlich müsste sich, wer die Verhältnisse verbessern will, wohlfühlen an diesem Ort des Widerstands. Eigentlich. Denn doch ist alles anders. Die Anklänge des Maidan an die Platzbesetzungen von der Madrider Puerta del Sol über den Athener Syntagma bis zum Taksim-Platz sind unübersehbar. Doch die Stoßrichtung ist eine andere.

Das verraten schon die Slogans. »Her yer Taksim, her yer direnis«, also »hier ist Taksim, hier ist Widerstand«, hieß es in der Türkei. »Polemos sto polemo ton aphentikon«, also »Krieg dem Krieg der Bosse«, skandierte man in Athen. Hier indes ruft man »Slava Ukraini«, also »Ruhm der Ukraine«, und »Slava Natsi«, also »Ruhm der Nation«. Die Fahnen gehören zu den prowestlichen, neoliberalen Parteien wie Vitali Klitschkos UDAR oder Julia Timoschenkos Batkivshchyna - oder eben zu den zahlreichen ultranationalistischen, neonazistischen Gruppierungen.

Der Maidan ist auch ein trauriger Ort. Man spricht mit jungen Menschen, denen die Frontzähne fehlen. Mit Älteren, die mit 2000 Hryvnia (etwa 150 Euro) im Monat eine Familie ernähren. Hoffnung hat sie angetrieben, trotz Lebensgefahr zu kommen und zu bleiben. Und zugleich ahnt man schon: Diese Hoffnung wird enttäuscht werden. Denn das Projekt, für das der Maidan steht, scheint keines zu sein, von dem man sich ein besseres Leben versprechen könnte.

Das vorläufige Resultat, die Übergangsregierung, spricht Bände. Die Vertrauten der Oligarchin Julia Timoschenko, die als weiblicher Janukowitsch gelten kann, wenn es um Geschick bei der Umverteilung nach oben geht, überwiegen in den Schlüsselpositionen. Petro Poroschenko, der ukrainische Berlusconi, der Medienzar, der Oligarch und wichtige Finanzier des Maidan, hat seine Freunde gut platziert. Der Rest besteht aus Technokraten und - durchaus in wichtigen Schlüsselpositionen - Faschisten. Die Führer der rechtsradikalen Militanten, Andriy Parubiy von »Swoboda« und Dimitrij Jarosh vom »Rechten Sektor« teilen sich immerhin die »Nationale Sicherheit«.

Das entspricht den Kräfteverhältnissen auf der Straße. Die rasant angewachsene Zahl an »Kämpfern«, die durch den Protest in die paramilitärischen Einheiten der Ultranationalisten gespült wurden, übernehmen schon jetzt de facto Staatsfunktionen. Sie stehen da, wo früher das Innenministerium seine Leute hatte: an den Straßensperren, vor den öffentlichen Gebäuden und Ämtern.

Ihrem Konzept von der »nationalen Revolution«, die eine Ukraine nur für »ethnische Ukrainer« und ohne Einflussnahme »nicht-ukrainischer Gruppen« vorsieht, entspricht die aktuelle Mobilisierung. Die Militanten sammeln derzeit das letzte Aufgebot. Auf den Internetseiten des »Rechten Sektors« kann sich bei einer Telefonnummer melden, wer bereit ist, auf Lastwagen und in Bussen nach Charkow oder Donezk zu fahren - um die »Revolution« auch dahin zu tragen, wo sie kaum jemand will. Egal, wie die Geschichte ausgeht: Für die Rechte wird sie einen ebenso nachhaltigen Effekt haben wie der Aufstand in der Türkei für die dortige politische Linke. In der Ukraine haben sich rechtsmilitante Verbände gesellschaftliche Positionen und ein Renommee erobert, das sie kurzfristig nicht mehr verlieren werden.

Von Anfang an tickte der Maidan-Protest in nationalen Kategorien, seinem teils sozialen Inhalt zum Trotz. Die Menschen auf dem Platz kämpfen in ihrer Mehrheit nicht für sich als soziale Schicht. Sondern für die »Nation«, die sie der Bedrängnis äußerer Mächte und innerer Verräter ausgesetzt sehen. Dementsprechend stehen sie mit ihren Ausbeutern - den Timoschenkos und Poroschenkos - auf derselben Seite der Barrikade. Sie haben sich selbst um das Resultat ihres Kampfes betrogen. Ihr Sieg, wenn er denn einer sein sollte, wird ein Pyrrhussieg sein.

Die Gegenreaktion entwickelte sich im Osten und Süden des Landes in den entsprechenden Verlaufsbahnen eines prorussischen Nationalstolzes. Russlands Präsident Wladimir Putin kann sein dem geostrategischen Vorstoß des Westens entgegengesetztes Szenario als antifaschistische Alternative zu den Stepan-Bandera-Nostalgikern aus der Westukraine präsentieren. In Ermangelung von Klassenbewusstsein und wegen der komplizierten ukrainischen Geschichte ist der Großteil der Bevölkerung in jenem Paradigma gefangen, das der Streit der Großmächte vorgibt.

Zwischen all den Barrikaden und Devotionalien erinnert man sich an eine ältere Revolutionärin, die gleichfalls auf die Massen setzte. Die »Aufgabe des Sozialismus«, schrieb Rosa Luxemburg 1916, sei »die geistige Befreiung des Proletariats von der Vormundschaft der Bourgeoisie, die sich in dem Einfluss der nationalistischen Ideologie äußert.« Luxemburg riet, »die überlieferte Phraseologie des Nationalismus als bürgerliches Herrschaftsinstrument zu denunzieren«. Das freilich ist schwierig - nicht nur, aber besonders im Kiew dieser Tage. Schwieriger, als sich unkritisch hinter den Euro-Maidan oder aber Putins Gegenoffensive zu stellen.

Die Ukraine ist ein Lehrstück für Linke auch in Deutschland. Sie zeigt nicht nur, wie schnell Faschismus zu einem tatsächlich relevanten Faktor werden kann, wenn die Umstände gegeben sind. An der Ukraine kann man sehen, wie offensiv der nach Abwicklung der Peripherieländer Europas erstarkte deutsche Drang auf die Weltbühne geworden ist. Und wie schwer die hiesige Linke sich mit Strategien gegen den »Hauptfeind im eigenen Land« tut.

Vor allem aber zeigt die Ukraine, wie unfruchtbar eine kritiklose Identifikation mit einer der Seiten in einem Konflikt zwischen zwei imperialen Projekten ist. Die einen wollten auf dem Maidan unbedingt einen Aufbruch der »Zivilgesellschaft« erkennen, eine basisdemokratische Bewegung gegen einen blutrünstigen Diktator - und übernahmen die Grunderzählung der westlichen Propaganda. Andere ziehen sich nun in den starken Schutz Putins zurück und meinen, der Antifaschismus bestimme tatsächlich die Agenda der russischen Armee. Auf diese Weise obsiegt immer nur die Matrix, die die Konfrontation imperialer Blöcke vorgibt. Anstatt eines von diesen Angeboten zu wählen, müsste man daran gehen, am Aufbau der eigenen Seite mitzuwirken.

Peter Schaber ist ein Pseudonym. Der Autor besuchte den Maidan Ende Februar und berichtete von dort auf dem Blog lowerclassmagazine.blogsport.de.

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