Kreis von eminentem Radius

  • Peter Gosse
  • Lesedauer: 3 Min.

»Glücklich der Künstler, an dem die Sehnsucht zehrt«, stellt Baudelaire in seinem Textlein »Die Sehnsucht zu malen« fest; und Sighard Gille, der furiose Maler (und Grafiker) darf sich als trefflich gemeint empfinden. Das Altern - der Mann ist über die Siebzig - ficht ihn beneidenswerterweise kaum an; das Begehren hin zu Frau und Welt rackert in ihm nach wie vor (»Die Lust ist mir treu!«) und drängt zu Bildwerdung.

Michael Hametner, Leipziger Literatur-Instanz sowie - wie sich herausstellt - subtiler Kundiger in Sachen Bildkunst, unternimmt es in diesem geglückten Buch namens »Einkreisen«, in fünfzehn Interviews Gille auf den Grund zu kommen. Als Zungenlockerer finden sich Aussprüche namhafter Kollegen vorangesetzt - ein passabler Zugriff, da sich SG sogleich in einem forschen Polarisieren ergehen kann.

Selbst an die weiteren Säulenheiligen oder vielmehr -unheiligen, zwischen denen sich der Organismus der nordsächsischen Malerei aufspannt (G. K. Müller, Rink, Rauch, Triegel), ergeht Kritik. Heftiger freilich die Attacken, die gegen den überbezahlten Kunstmangel geritten werden: Hirst, Balkenhol (dem Leipzig ein prekäres Wagner-Denkmal »verdankt«), Gerhard Richter, der Staunen machende Ostmaler als »Arschlöcher« bezeichnende Baselitz. Auch Lüpertz kommt nicht gut weg, wiewohl der zu Gilles fünfundsechzigstem Geburtstag mit wehenden Mantelschößen ins Atelier in Plagwitz’ Naumburger Straße hereinrauscht.

Freilich hakelt SG nicht eigentlich gegen Namen: »Das Ruhigstellen der Bevölkerung durch unsägliche Soaps, Shows und Werbeplattheiten« empört ihn - wider derlei sei »eine Antiästhetik zu setzen!«

Oder einfach Ästhetik - wie sie die von Gille hingebungsvoll gepriesenen Vorvorderen uns bescheren? Dix, Heisig, vor allen anderen Beckmann. Von den Zeitgenossen Lucien Freud oder Frank Auerbach (den, einen Zurückgezogen, in London aufzusuchen nicht gelang). Jedenfalls porträtiert er auf Seite 151 beide zusammen mit Hockney und Kitaj. Wie wohl? In angemessener Raserei. Seite 110 zeigt eine Kaltnadelradierung des eruptiven Gille zu Richard Wagners »Tristan«, den es zwischen christlich-durchgeistigter Liebesverzehrung und blutvoll versucherischer Leibeslust hin und her schleudert - gar bis hinüber zum Papst. Unser Epikureer stubst begradigend in die Wonneschauer: Den Holzstab der Oper wandelt er hochgemut in den männlichen Stab der Stäbe; das Geschehnis ist vom Scheitel aufs Scheidl gekehrt. Nahe geht das, bisweilen schön wechselseitige, Fragen und Antworten, wenn schließlich die Rede um das dermaleinstige Schicksal des Nachlasses und überhaupt um den Tod geht; Gille beschreibt ahnungsvoll - wahrscheinlich flüsternd - die Nähe von Eros und Thanatos. Gänzlich verfliegt Eros - und da ist es wohl auch mit dem Baudelaireschen Glück vorbei - ganz verfliegt er angesichts der gilleschen Überzeugung, die Gattung arbeite unaufhaltsam auf ihre Tilgung hin. (Einen selbsttöterischen Skorpion, schwarz, hat er mir in die Widmung gemalt.)

Ein ergreifendes (und unsereins hernach nicht loslassendes) Buch, das von einer, vom Maler selbst besorgten, Blütenlese aus seinem Werk gekrönt ist: Über siebzig gediegen reproduzierte Arbeiten (partiell hält SG sie für zu dunkel) bieten sich dem Betrachter, wobei dem 700-m²-Gewandhaus-Gemälde zu Mahlers »Lied auf die Erde« verständlicherweise mehrere Blätter eingeräumt werden. Ein hockender Pan blickt über dich Konzertbesucher so verloren hinweg, als wüsste er um jene seine Zukunft, die Tizian mit unüberbietlicher Großheit veranschaulicht: Der Gott wird ihm, dem Hirten, das Fell über die Ohren ziehen.

Michael Hametner: Einkreisen. 15 Gespräche - Ein Porträt des Malers Sighard Gille. Mitteldeutscher Verlag. 192 S., geb., 24,95 €.

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