Notärztlich am Limit

Senat hat noch kein Konzept zur Reorganisation der Rettungsdienste

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 3 Min.
Seit über einem Jahr gibt es in Berlin den Beruf des Notfallsanitäters. Die Ausbildung erfordert einige Änderungen für die Rettungsdienste. Nicht alle finden, dass Berlin gut auf die Umstellung vorbereitet ist.

Über 300000 Rettungswageneinsätze haben Feuerwehr und die Hilfsdienste vergangenes Jahr absolviert. Das sind fast 100 000 Einsätze mehr als noch vor zehn Jahren und die Zahl wird absehbar weiter zunehmen. Die Gründe sind vielfältig, dazu gehören unter anderem der steigende Altersdurchschnitt der Bevölkerung, sinkende Hausärztezahlen und auch die immer frühzeitigere Entlassung von Patienten aus Krankenhäusern. Das ist kein rein Berliner Phänomen - in Relation zur Einwohnerzahl rücken die Notdienste im Bundesvergleich hier eher selten aus.

Vor etwas über einem Jahr hat der Bundestag reagiert und den neuen Beruf des Notfallsanitäters geschaffen. Bis 2020 löst der den Rettungsassistenten ab. Notfallsanitäter dürfen in medizinischer Hinsicht wesentlich mehr machen als die bisherigen Rettungswagenbesatzungen. Das bedeutet weniger Notarzteinsätze und häufig eine schnellere Behandlung in Notfällen. Im Gegenzug verlängert sich die bisher in der Praxis einjährige Ausbildung auf drei Jahre. Die Aufgabenträger erwartet ein organisatorischer und finanzieller Kraftakt, um sich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen.

»Wir sind in Berlin mit der Umsetzung eigentlich schon in Verzug«, sagt Heiko Thomas, gesundheitspolitischer Sprecher der Grünen im Abgeordnetenhaus, auf einer Anhörung seiner Fraktion zum Thema. Schon bis Ende des Jahres müsse die Reform der Ausbildung umgesetzt sein. »Ein sehr weiter Rahmen und viele offene Fragen«, ist nach Beobachtung von Innenpolitiker Benedikt Lux (Grüne) der aktuelle Planungsstand im Senat. »Wir wollen eine konsequente Umsetzung und kein Flickwerk«, so Lux. Zumal das auch die Gelegenheit für strukturelle Änderungen wäre.

»Wir sind bei der notärztlichen Vorhaltung in Berlin am Limit«, sagt Stefan Poloczek, ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes bei der Feuerwehr. Da in Zukunft bei 30 bis 40 Prozent der Einsätze kein Notarzt mehr notwendig sein wird, knüpft er große Hoffnungen an das neue Berufsbild. Auch berichtet er von »großen Sprüngen im Qualitätsniveau« bei bisherigen Krankenwagenbesatzungen. Zukünftig könne man ein gewisses Niveau erwarten. Das Gesetz sei »eine Richtungsentscheidung für einen professionellen Rettungsdienst.«

Rund 100 Rettungswagen sind bei der Feuerwehr ständig einsatzbereit, das entspricht rund 600 Rettungsassistenten, die die bis zu einem halben Jahr dauernde Nachschulung absolvieren müssten. Da die Wagen selbst bisher »sehr effizient« ausgestattet gewesen seien, müsse man mit rund 30 000 Euro Nachrüstkosten pro Fahrzeug rechnen. Auch die künftig dreijährige Ausbildung ist einer der Kostenfaktoren, die sich zu Millionenbeträgen addieren.

»Die Finanzierung zu stemmen wird schwierig«, sagt Jens-Uwe Retter vom Berliner Roten Kreuz. »Ich denke, ich spreche da auch für die anderen Hilfsdienste.« Zumal die Krankenkassen schon seit Jahren die hohen Kosten im Rettungsdienst monieren. »Ich finde es falsch, dass die ganze Diskussion bisher ohne die Kassen läuft«, sagt Heiko Thomas. Seriös könnte nur der Senat über die Gesamtkosten informieren, doch der ist immer noch in der grundlegenden Planung.

Man habe noch gar nicht darüber geredet, wie viel der Notfallsanitäter in Zukunft verdienen werde, heißt es vonseiten der Deutschen Feuerwehr-Gewerkschaft. Es sei nicht einzusehen, bei gleicher Bezahlung immer mehr Verantwortung zu tragen. Solange das nicht geklärt sei, werde die Gewerkschaft davon abraten, die Qualifikationskurse zu belegen.

In Aachen wird derweil mit großem technischen Aufwand der sogenannte Telenotarzt zur qualifizierten Unterstützung des Rettungspersonals zum 1. April eingeführt. Kein Scherz.

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