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Russland pocht aufs Selbstbestimmungsrecht der Völker

Igor Maximytschew: »Wir können Hilferufe von Menschen nicht abweisen, mit denen wir aufs Engste verbunden sind.«

  • Lesedauer: 4 Min.
Professor Igor Maximytschew war viele Jahre Gesandter an der sowjetischen Botschaft in Berlin, später arbeitete er am Europa-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften. Der erfahrene Diplomat und Politikberater beantwortete Fragen von nd-Redakteurin Karlen Vesper.

Nein, Russland wolle keinen Krieg, versichert Igor Maximytschew, Russland sehe sich aber bei entsprechender Bitte zum Beistand für die in der Ukraine lebenden Russen wie auch das gesamte ukrainische Volk verpflichtet: »Wir können Hilferufe von Menschen nicht abweisen, mit denen wir geschichtlich wie auch gegenwärtig aufs Engste verbunden sind.«

Für große Teile der Bevölkerung Russlands sei der Unterschied zwischen Russen und Ukrainern fließend. »Mindestens ein Drittel der Bürger der Russischen Föderation hat ukrainische Wurzeln. Zahlreiche Russen haben Verwandte und Freunde in der Ukraine. Zwischen drei und fünf Millionen ukrainische Gastarbeiter gibt es in Russland.« Für Russen sei es selbstverständlich, »sich den Bitten ihrer Verwandten und Freunde nicht zu verschließen«.

Eine reale Gefahr für die Bevölkerung der Ukraine und ihre Nachbarn sieht Maximytschew in extrem rechten, neonazistischen Gruppierungen, die in Kiew jetzt mit an der Macht sind. Diese Gefahr wolle der Westen offenbar nicht wahrhaben. Die EU-Garanten des Abkommens vom 21. Februar, in dem der ukrainische Präsident Janukowitsch und die Oppositionsführer die Marschroute für den Machtwechsel fixiert hatten, »hüllten sich in Schweigen«, als die Erfüllung des Abkommens durch die Staatsmacht von der Gegenseite zum bewaffneten Sturm auf Regierungsgebäude genutzt wurde. »Schlimmer noch: Der Westen entschloss sich zur sofortigen Anerkennung der Umstürzler in Kiew.« Und da die Putschisten begonnen hätten, ihre Ordnung auch der südöstlichen Ukraine aufzuzwingen, »blieb der Bevölkerung dieser Regionen nichts anderes übrig, als zur Selbstverteidigung zu greifen und Russland um Unterstützung zu bitten«.

Von einer »Aufteilung« der Ukraine will der Moskauer Diplomatieveteran nichts wissen. »Es geht vielmehr um das Selbstbestimmungsrecht jener Territorien, in denen russische Kultur und Tradition von besonderem Gewicht sind.« Auf der Krim seien schließlich an die 60 Prozent der Bevölkerung ethnische Russen. Überhaupt sei die Halbinsel 1954 nur deshalb zur Ukraine gekommen, weil Nikita Chruschtschow die Unterstützung der ukrainischen Parteiführung für seinen Kampf um den Kreml benötigte. Der Streit um die Macht in Moskau war im Jahr nach Stalins Tod noch nicht entschieden.

In der unabhängigen Ukraine habe die Krim laut Verfassung von 1992 zunächst weitgehende Autonomie genossen, »sie hatte damals sogar noch einen eigenen Präsidenten«. Kiew habe diese Autonomie jedoch bald empfindlich eingegrenzt. Freilich hat auch Moskau die Rechte seiner Republiken beschnitten und deren Oberhäuptern untersagt, sich als Präsidenten zu bezeichnen.

Seit dem Umsturz in Kiew, so Maximytschew weiter, wetteiferten die Führer der extremen Rechten in ihren Erklärungen darum, wie sie die rebellierenden Regionen und die »Moskalen«, die Russen, »disziplinieren« wollen. Das nähre Ängste bei den Betroffenen. Das Krim-Referendum werde entscheiden, ob deren Bewohner zur Verfassung von 1992 zurückkehren oder lieber Teil der Russischen Föderation werden möchten. »Ein Volksentscheid ist ein demokratisches Mittel, Streitfragen beizulegen.«

Maximytschew pocht auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen, das »heute fester Bestandteil des Völkerrechts ist«. Auch auf das Beispiel Kosovo nimmt er Bezug: »Der Westen hat die Abtrennung Kosovos von Serbien mit Gewalt betrieben und besiegelt; vom Standpunkt des Völkerrechts gesehen war dieser Akt sehr zweifelhaft. Die Situation auf der Krim dagegen ist klar. Doch nun soll der Bevölkerung der Krim das Recht verweigert werden, über ihr Schicksal selbst zu entscheiden. An der Tatsache, dass die Ukraine einer illegitimen Regierung unterstellt wurde, die nicht imstande ist, Ruhe und Ordnung im Lande auf demokratischer Basis zu sichern, trägt Russland keine Schuld.«

Man dürfe jedenfalls annehmen, dass Russland die Ergebnisse des Volksentscheids auf der Krim »respektiert«. Im Übrigen hofft Maximytschew auf weitsichtige Politiker im Westen, »die bedenken, dass die wichtigste Aufgabe nach einer Periode der Spannung darin besteht, zur Normalität zurückzufinden«. Eine geostrategische Konzeption, die auf »Eindämmung« und Einkesselung Russlands zielt, werde in eine Katastrophe führen. »Es gibt nur eine Perspektive: Russland muss gleichberechtigt in den Aufbau eines vernünftigen und wirksamen globalen Sicherheitssystems einbezogen werden.«

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