Wenn nachts nicht nachts ist

In Niedersachsen wird weiter vor 6 Uhr abgeschoben - Rot-Grün hatte anderes versprochen

  • Hagen Jung
  • Lesedauer: 3 Min.
Auch unter SPD und Grünen gibt es noch nächtliche Abschiebungen in Niedersachsen. Eine Regierungsbilanz behauptet das Gegenteil. Also sagt Rot-Grün die Unwahrheit, schimpft die Opposition.

Einen »Paradigmenwechsel in der Abschiebungspraxis« hatten SPD und Grüne zum Regierungswechsel in Hannover in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben. Gut ein Jahr später bilanzierten die Partner dann auch stolz in einer Broschüre: »Nächtliche Abholzeiten oder unnötige Familientrennungen bei Rückführungen gehören der Vergangenheit an.« Das ist, was das Abholen zur Nachtzeit betrifft, nicht korrekt. Auf eine Anfrage der CDU-Fraktion im Landtag berichtete die Regierung, dass es im vergangenen Jahr 100 Abschiebungsfälle gab, bei denen die Betroffenen vor 6 Uhr früh abgeholt wurden.

Das Innenministerium rechtfertigt das vor allem mit Hinweis auf Abschiebungen nach dem umstrittenen Dublin-Abkommen. Es besagt, dass Flüchtlinge in jenes europäische Land verbracht werden müssen, in dem sie zuerst Asyl beantragt haben. In solchen Fällen bestimme das jeweilige EU-Land in Abstimmung mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Flugzeiten. Das gab gestern auch Innenminister Boris Pistorius (SPD) zu bedenken, nachdem ihn die Opposition im Landtag hart angegangen hatte.

Unter Rot-Grün habe es 2013 in Niedersachsen 649 Abschiebungen gegeben, resümierte der CDU-Abgeordnete Ansgar Focke. Das seien 86 mehr als 2012, als noch der CDU-Politiker Uwe Schünemann das Innenressort leitete. Dessen von den Grünen ersonnene Titel »Abschiebeminister« könne nahtlos auf Boris Pistorius übergehen, so Focke. Der Minister mache es sich zu leicht, wenn er die Verantwortung für nächtliche Abholaktionen auf das Bundesamt abwälze. Zu Recht habe der Flüchtlingsrat dieser Tage betont, dass der konkrete Vollzug von Abschiebung in die Verantwortung des Landes falle.

Die CDU möge sich doch an die unwürdige Abschiebepraxis unter Schünemann erinnern, konterte Pistorius. Plötzlich und unerwartet seien Familien aus den Betten geholt worden, weder auf Kinder habe man Rücksicht genommen noch auf eine hochschwangere Frau oder auf die Tatsache, dass die Flüchtlinge im Zielland ein Bürgerkrieg erwartet. Das habe Rot-Grün sehr wohl beendet. Abholtermine würden rechtzeitig bekannt gegeben, und grundsätzlich würden keine Familien mehr getrennt. Die Zunahme der Abschiebungen 2013 sei auf Anordnungen der Bundesebene gemäß Dublin-Abkommen zurückzuführen.

Das Land, so erklärte der Minister, tue alles erdenklich Mögliche, um Abschiebungen vor 6 Uhr früh zu vermeiden und nehme für spätere Zeiten sogar höhere Preise für Flugtickets in Kauf. »Doch es gibt Ausnahmesituationen, wo wir nicht anders dürfen und können«, räumte der Minister ein. Das Bundesamt und die jeweiligen EU-Länder bestimmten die Abflug- und Ankunftszeiten, wenn Menschen gemäß dem Dublin-Abkommen ausgeflogen werden. Dann seien den niedersächsischen Behörden die Hände gebunden.

»Die Dublin-Regelung gehört abgeschafft«, forderte die migrationspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Filiz Polat. Von der CDU vermisse sie konkrete Vorschläge zum humanen Umgang mit Flüchtlingen. Stattdessen verharre die Union beim Hardliner-Kurs von Uwe Schünemann und verteidige »die furchtbare Politik dieses unsäglichen Ministers«. Es sei die CDU, die im Bundestag und in der EVP-Fraktion im europäischen Parlament zu denjenigen gehöre, die Europa zu einer Festung haben verkommen lassen. Die Union, so sagte Polat, vertrete eine Politik, die Millionen von Steuermitteln für die Aufrüstung an europäischen Grenzen verschwende: zur Bekämpfung von Flüchtlingen.

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