Neuer Prozess um verschwundenes Mädchen

Ulvi K. war vielleicht doch nicht der Täter: Auch nach 13 Jahren und einer Verurteilung bleibt der Fall Peggy rätselhaft

  • Roland Beck
  • Lesedauer: 4 Min.
Vor 13 Jahren verschwand die Schülerin Peggy spurlos, ihre Leiche wurde nie gefunden. Als ihr Mörder wurde der geistig behinderte Ulvi K. verurteilt - vielleicht zu Unrecht.

Bayreuth/Halle. Ein schwergewichtiger Mann mit schütterem Haar schlürft in einem Bayreuther Café einen Erdbeershake. Obwohl der 36-Jährige das Gesicht in einem der rätselhaftesten Kriminalfälle Deutschlands ist, erkennt ihn niemand. »Nur manchmal spricht mich jemand an. Die Leute sind dann immer nett zu mir und wünschen viel Glück«, erzählt Ulvi K. bereitwillig.

Vor zehn Jahren wurde der geistig Behinderte als Mörder der neun Jahre alten Peggy aus dem oberfränkischen Lichtenberg zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt - von kommenden Donnerstag an wird der Fall vor dem Landgericht Bayreuth neu aufgerollt.

Die Schülerin Peggy war am 7. Mai 2001 letztmalig auf dem Heimweg von der Schule gesehen worden. Ihre alleinerziehende Mutter gab noch am Abend eine Vermisstenanzeige auf. Hundertschaften der Polizei durchkämmten die bayerische 1200-Seelen-Gemeinde wochenlang. Selbst Kampfjets der Bundeswehr beteiligten sich an der Suche.

Bei der Polizei gingen 700 Hinweise ein - sogar von Wahrsagern. Alle führten ins Leere. Ein neues Ermittlerteam präsentierte dann den Lichtenberger Gastwirtsohn Ulvi K. als Mörder Peggys - von ihm war bekannt, dass er sich mehrmals vor Kindern entblößt hatte. Laut dem Urteil von 2004 tötete er Peggy, um einen vier Tage zuvor an ihr begangenen sexuellen Missbrauch zu vertuschen. Er soll dem Mädchen nachgerannt sein und ihm dann so lange Mund und Nase zugehalten haben, bis es sich nicht mehr rührte.

»Ich bin kein Mörder«, sagt Ulvi K. immer wieder. Seine Strafe verbüßte der 36-Jährige auch noch gar nicht. Wegen Kindesmissbrauchs sitzt er seit rund elf Jahren in einer psychiatrischen Einrichtung. Inzwischen darf er mit seiner Betreuerin mehrmals in der Woche das Gelände für einige Stunden verlassen. Verteidiger Michael Euler hält seinen Mandanten für ein Justizopfer. »Es ist nur schwer zu glauben, dass ein geistig Behinderter das perfekte Verbrechen begangen haben soll. Ohne Leiche. Ohne Spuren.« Der Jurist hat mehrere Aktenordner voll neuer Beweise in dem Fall zusammengetragen.

Das Landgericht Bayreuth ordnete die Wiederaufnahme des Verfahrens aus zweierlei Gründen an: Ein wichtiger Belastungszeuge hat seine Aussage im September 2010 widerrufen. Der mittlerweile verstorbene Mann hatte im ersten Prozess behauptet, Ulvi K. habe ihm das Verbrechen in der Psychiatrie gestanden, in der auch er einsaß. Dies sei aber eine Lüge gewesen, gab er später zu Protokoll.

Außerdem war bei dem ersten Prozess nicht bekannt, dass die Ermittler den Tathergang aus ihrer Sicht schriftlich festgehalten hatten - ein Geständnis von Ulvi K. war nahezu identisch mit dieser sogenannten Tathergangshypothese. Später widerrief K. sein Geständnis. Verurteilt wurde er dennoch wegen Mordes.

Erst seit knapp zwei Jahren wird im Fall Peggy erneut ermittelt. Zwei Bekannte der Familie des spurlos verschwundenen Mädchens gerieten dabei ins Visier der Staatsanwaltschaft Bayreuth. Einer von ihnen, ein Mann aus Halle (Saale), muss sich in Kürze wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs der Tochter seines Halbbruders vor Gericht verantworten. Ein anderer wurde bereits wegen Kindesmissbrauchs verurteilt. Gegen keinen der Männer hätten sich aber bislang Anhaltspunkte ergeben, die für eine Anklage im Fall Peggy ausreichten, sagt der Leitende Oberstaatsanwalt Herbert Potzel.

Für den neuen Prozess spielt das keine Rolle: »Es geht allein um die Frage, ob die Tat Ulvi K. nachgewiesen werden kann oder nicht«, erklärt Gerichtssprecher Thomas Goger. Bei einem Wiederaufnahmeverfahren ist es eben so, als hätte der erste Prozess nie stattgefunden. Deshalb ist wieder Ulvi K. der Angeklagte und deshalb muss mit Ausnahme weniger Punkte auch exakt die gleiche Anklageschrift wie vor zehn Jahren verlesen werden. Sogar die Gutachter von damals sind wieder dabei.

Ausgerechnet kurz vor Prozessbeginn musste die Bayreuther Staatsanwaltschaft eine neue Panne bei dem rätselhaften Fall einräumen: Einem Verdächtigen war bei seiner Vernehmung kein Anwalt gestattet worden. Der zuständige Staatsanwalt sei laut Oberstaatsanwalt Potzel auf eigenen Wunsch von dem Fall entbunden worden. Die letztlich entscheidende Frage bleibt unterdessen noch immer unbeantwortet: Wo ist Peggy? dpa

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