Ein Kultbuch

Harald Hauswald und Lutz Rathenow: »Ost-Berlin. Leben vor dem Mauerfall«

  • Jan Eik
  • Lesedauer: 3 Min.

Harald Hauswalds und Lutz Rathenows Beitrag zur Berliner 750-JahrFeier erschien - unter Umgehung von Zensur und Urheberrechtsbüro - 1987 zum ersten Mal im Westen. Seitdem hat das Buch einen verschlungenen Weg hinter sich. Jetzt legt Jaron die sechste (eigentlich die neunte), um etliche Fotos und Texte erweiterte Auflage vor, versehen mit einer Einleitung von Ilko-Sascha Kowalczuk über das Buch und seine Geschichte. Darin äußert der Historiker die nicht unberechtigte Vermutung, der umtriebige Lutz Rathenow selbst habe den Begriff »Kultbuch« in Umlauf gebracht: eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, wie sich erwies.

Wer die real existierende Hauptstadt der DDR in ihrer Endphase sehen und studieren will, kommt nicht an Rathenows Texten und noch weniger an Hauswalds Fotos vorbei. Wie der in den achtziger Jahren weithin bekannte Dissidenten-Status der Autoren nicht anders vermuten lässt, erkennt man die Stadt wieder - und nicht unbedingt zu ihrem Vorteil. »Rathenow und Hauswald gehen von ihrer kleinbürgerlich-pazifistischen, teilweise anarchistischen Haltung sowie ihren ablehnenden Positionen gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR aus ...«, vermutete das MfS bereits ein halbes Jahr vor Erscheinen der ersten Ausgabe. Eine direkte Bestrafung der Urheber unterblieb aus politischen Gründen.

Dabei haben die beiden durchaus keine bösartige Auswahl getroffen und keineswegs nur die reichlich vorhandenen Dreckecken dargestellt. Der neue Alex erstrahlt im eigenen Glanz, die Wachablösung marschiert, Menschen sind müde, verliebt oder fröhlich. Die Autoren schildern und zeigen einfach nur die Realität, und die reicht nun einmal vom tausendfach vorhandenen Pappkremser über die zweimal jährlichen Aufmarschübungen nebst Paraden bis zur nonkonformen Szene und verfallenden Bausubstanz in Prenzlauer Berg.

Erst die Gegenüberstellung von Maidemonstration und Käuferschlange vor einer Fleischerei wirkt provokant, die vom Panzer auf dem Kinderkarussell und dem Kohlenhof in der Pappelallee nicht weniger.

Und immer beweisen solche Gegensätze den Blick des Fotografen für den richtigen Augenblick. Das U-Bahn-Foto vom Feierabend ist ein Meisterwerk, der mit Stricken festgezurrte Luther vor dem Lenin-Monument der Glückstreffer eines geduldigen Fotografen. Denn das ist der inzwischen international bekannte Harald Hauswald: ein ruhiger, unaufgeregter Beobachter, der einen liebevollen Blick auf seine Mitmenschen nicht verleugnet, dem aber auch Bilder wie die von den Ordnungskräften vor der Seelenbinder-Halle oder beim Bruce-Springsteen-Konzert gelingen, die jede Satire übertreffen. Der Regierungskonvoi in der menschenleeren Wilhelm-Pieck-Straße entlarvt eine ganze Gesellschaftsordnung.

Nein, ein »schönes« oder gar beschönigendes Berlin-Buch ist das nicht, aber eines, in dem man oft blättern und lesen sollte und dabei auch manch Heiteres entdeckt, das man vergessen hat. Oder vergessen wollte? War etwa doch nicht alles schlecht … ?

Harald Hauswald, Lutz Rathenow: Ost-Berlin. Leben vor dem Mauerfall. Deutsch und Englisch. Jaron-Verlag. 160 S., br., 14,95 €.

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