nd-aktuell.de / 22.04.2014 / Politik / Seite 8

»Europa von innen heraus sprengen«

Frankreichs Front National will im EU-Parlament eine neue rechtsextreme und EU-feindliche Fraktion gründen

Ralf Klingsieck, Paris
Wenn die Europawahl bereits am nächsten Sonntag stattfände, würde die rechtsextreme Front National mit 20 Prozent der Stimmen als zweitstärkste Partei in Frankreich abschneiden.

Erst vor wenigen Wochen konnte die Front National (FN) bei den Kommunalwahlen in Frankreich zahlreiche Erfolge feiern: Elf Städte mit mehr als 9000 Einwohnern werden von nun an von der rechtsextremen Partei regiert, ebenso der 7. Stadtbezirk von Marseille und Orange, eine bereits 1995 von ihnen eingenommene Stadt, wurde verteidigt. Diese Dynamik will die Partei jetzt auch bei der Wahl zum Europäischen Parlament am 25. Mai nutzen.

»Bei der Kommunalwahl zeigte sich die tiefe Unzufriedenheit breiter Schichten der Bevölkerung und ihr Wunsch nach einer radikalen politischen Wende«, stellt die Parteivorsitzende Marine Le Pen fest. »Doch 80 Prozent des Unglücks, das unser Land trifft, sind die Folge von Entscheidungen auf europäischer Ebene.« Für diese seien sowohl die regierende Sozialistische Partei (PS) als auch die rechtsbürgerliche Union für eine Volksbewegung (UMP) mitverantwortlich.

Zu den falschen Entscheidungen zählt Le Pen die einschneidende Entschuldungs- und Maßhaltepolitik, die unlautere Konkurrenz billiger Werkvertragsarbeiter und die Freizügigkeit für Personen in Europa, was massenhaft Roma und mit ihnen Unsicherheit ins Land bringe. Als einzige konsequente und erfolgversprechende Alternative stellt die 45-Jährige ihre Partei, die Front National, heraus.

Die hat die Europaabgeordnete und Spitzenkandidatin seit Anfang 2011, als sie ihrem Vater Jean-Marie auf den Posten des Parteivorsitzenden folgte, spürbar umgekrempelt und eine »Entdämonisierung« in der öffentlichen Meinung erreicht. Dafür hat sie bekennende Neonazis und glatzköpfige Schlägertypen aus der FN gedrängt, antisemitische Äußerungen - für die ihr Vater regelmäßig in die Medien kam - duldet sie nicht mehr in der Partei. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit werden dank geschickter Wortwahl als Besorgnis um die nationale Identität und die Zukunft der arbeitenden Franzosen sowie ihrer Familien kaschiert.

In den neu eroberten Städten will die Front National auch nicht wieder die Fehler machen, die sie nach der Kommunalwahl von 1995 über Jahre in die Medien brachte, ihr Image beschädigte und die meisten der seinerzeit gewonnenen Städte beim folgenden Urnengang wieder verlieren ließ. So soll es diesmal keine Umbenennung von Straßen oder die Bevormundung der Stadtbibliotheken bei der Anschaffung von Büchern und Zeitschriften geben. Durch parteiinterne Kontrolle will Marine Le Pen auch vermeiden, dass es wieder zur Bereicherung von Kommunalpolitikern zu Lasten der Stadtkasse kommt, was vor Jahren eine Lawine von Ermittlungen und Prozessen nach sich zog.

Doch andere Praktiken bleiben. So werden unerwünschten Vereinen - zumal mit multikulturellem Hintergrund - finanzielle Zuwendungen der Stadt gestrichen. Sie müssen kommunale Räume verlassen, die sie bislang billig oder mietfrei nutzen konnten. Das diene der Sanierung der Finanzen der Stadt und komme den Bürgern durch eine Senkung der Kommunalsteuern zugute, lautet das Argument. Das liegt auf einer Linie mit dem Streben von Marine Le Pen, die FN als »die einzige Partei, die wirklich das Wohl der arbeitenden Menschen und der kleinen Leute im Auge hat«, darzustellen.

Diese Franzosen wurden von der rechtsbürgerlichen UMP seit Jahren vernachlässigt, muss deren Parteiführung heute eingestehen, die Sozialisten sind längst »verbürgerlicht« und haben fast nur noch die Mittelschicht und deren Interessen im Auge. Und der Einfluss der Kommunisten ist dadurch begrenzt, dass man sie im öffentlichen Bewusstsein nach wie vor mit dem Niedergang der sozialistischen Staaten in Verbindung bringt und als Vertreter einer überlebten Utopie abstempelt.

Während sich die FN über viele Jahre auf die aus Algerien vertriebenen und jetzt in Südfrankreich konzentrierten Ex-Siedler und deren Ressentiments gestützt hat, kann sie heute ihre größten Wahlerfolge dort verzeichnen, wo die Arbeitslosigkeit am höchsten ist und wo Unternehmen geschlossen wurden, ohne dass die jeweiligen Regierungen - auch die sozialistisch geführten Kabinette - etwas dagegen unternommen hätten. »In dieser Situation ist es der Front National immer mehr gelungen, sich soziale Werte der Linken und politische Werte der bürgerlichen Rechten anzueignen, sie für das Verständnis der kleinen Leute griffig aufzubereiten und damit Anhänger und Wähler zu gewinnen«, sagt der Politologe Olivier Duhamel.

Die FN spricht auch populistisch die verbreiteten Ängste vor Kriminalität und Überfremdung an und instrumentalisiert sie für ihren Feldzug gegen illegale Einwanderung, gegen Freizügigkeit für Roma und gegen die fortschreitende »Islamisierung« des Lebens in Frankreich. Das ist - in Verbindung mit dem ebenfalls verbreiteten »Euroskeptizismus« - die Hauptstoßrichtung im Europawahlkampf, während sich das wirtschaftliche und soziale Programm weitgehend auf die vage Verurteilung der »Übermacht der Banken und Finanzmärkte« und der »drückenden Steuerlast für die arbeitenden Menschen« beschränkt.

Marine Le Pen arbeitet seit Monaten intensiv und offenbar nicht ohne Erfolg daran - die FN könnte nach der UMP und vor der PS zweitstärkste Kraft werden -, einen engen Schulterschluss mit der niederländischen Partei für Freiheit von Geert Wilders herzustellen. Gemeinsam wollen sie weitere rechtsextreme Parteien und deren Europaabgeordnete um sich sammeln, um im Parlament eine starke Fraktion mit entsprechenden Mitteln und Einfluss zu bilden. »Wir streben mit Macht ins Europaparlament«, sagte Marine Le Pen in einem Interview, »weil wir den Europaprozess für schädlich für die Völker halten und weil wir ihn von innen heraus sprengen wollen«.