Der europäische Flüchtlingsfriedhof

Karl Kopp über die zunehmende Auslagerung der EU-Flüchtlingsabwehr

  • Lesedauer: 3 Min.

Nur wenige Tage, nachdem die große Bootskatastrophe vor Lampedusa vom 3. Oktober 2013 durch die Medien ging, starben am 11. Oktober erneut 260 Flüchtlinge aus Syrien, darunter mehr als 100 Kinder. Sie alle hätten gerettet werden können, wenn die italienischen Behörden umgehend auf die Notrufe der Flüchtlinge reagiert und Hilfe geschickt hätten.

»Left to die«, das Sterbenlassen auf See, gehört offensichtlich nach wie vor zur Abschreckungspolitik der EU gegenüber Flüchtlingen. Dem neuen Projekt einer Datenbank »The Migrants‘ Files« europäischer Journalistinnen und Journalisten zufolge sind seit dem Jahr 2000 mehr als 23.000 Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa ums Leben gekommen.

Seit Ende Oktober hält das italienische Militär im Rahmen der Operation »Mare Nostrum« Ausschau nach Flüchtlingsbooten. Knapp 20 000 Flüchtlinge konnten von November 2013 bis Mitte April 2014 im Kanal von Sizilien geborgen und nach Italien gebracht werden. Der italienische Innenminister Angelino Alfano machte bereits zu Beginn der Militäroperation Ende Oktober 2013 deutlich, dass man mit dem massiven Einsatz der Kriegsmarine die Menschenschmuggler abschrecken wolle, außerdem müssten die geretteten Flüchtlinge keineswegs notwendigerweise nach Italien gebracht werden.

Italien und Europa wollen weiterhin Libyen, ein wichtiges Transitland für Flüchtlinge, in die Fluchtverhinderung einbinden. Mit einem Ende November 2013 zwischen Italien und Libyen geschlossenen Abkommen zur Bekämpfung »illegaler Migration« wird auch die Präsenz libyscher Grenzschützer auf den Kriegsschiffen von Mare Nostrum geregelt. Nach Informationen von borderline-europe wurden 2014 mindestens in drei Fällen Flüchtlinge nach der Rettung von libyschen Einheiten übernommen und zurückgebracht. Derzeit verhindert nur die Tatsache, dass Libyen in weiten Teilen von bewaffneten Milizen beherrscht wird, die avisierte reibungslose Kooperation bei der Flüchtlingsabwehr.

Das Europäische Parlament hat am 16. April 2014 Regelungen für die Grenzagentur Frontex an den Seeaußengrenzen angenommen. Mit der Verordnung werden Zurückweisungen von Bootsflüchtlingen - sogenannte push backs - auf eine scheinbar legale Grundlage gestellt. Wird ein Schiff auf hoher See aufgegriffen, so gilt: Nach Aufgriff und Durchsuchung des Schiffs können die Bootsflüchtlinge zurückverfrachtet werden. Zwar dürfen Schutzsuchende nicht in Drittstaaten überstellt werden, in denen den Betroffenen unmenschliche Behandlung oder andere Menschenrechtsverletzungen drohen. Bewusst vage sind jedoch die Bestimmungen gefasst, wie diese »Flüchtlingsfeststellungsverfahren« von den Grenzschützern auf einem Frontex- Schiff durchgeführt werden können.

Statt einer Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik setzt die Europäische Union auf die verstärkte Abwehr, auf den Ausbau von Frontex und des Grenzüberwachungssystems Eurosur. Eine Bereitschaft, Flüchtlingen den legalen Zugang nach Europa zu gewähren und sie aktiv aus dem nordafrikanischen Transit aufzunehmen, um den Schutzsuchenden aus Syrien, Eritrea, Somalia und anderswo den gefährlichen Weg übers Mittelmeer zu ersparen, ist nicht in Sicht.

Die EU-Kommission hat in ihrem Maßnahmenpaket zu »Lampedusa und die Folgen« im Dezember 2013 lediglich flüchtlingsfeindliche Vorschläge des letzten Jahrzehnts recycelt und mit mehr Finanzmitteln ausgestattet. Sie verkauft dieses schäbige Kompendium als Beitrag, um den »Verlust von Leben im Mittelmeer« zu verhindern. Die Strategie der Europäischen Union zielt jedoch darauf, Transitstaaten noch stärker als Türsteher in die Pflicht zu nehmen und Schutzsuchende vom Territorium der Europäischen Union fernzuhalten.

Das humanitäre Beiwerk wie der Appell, mehr Resettlementplätze zu schaffen, über humanitäre Visa nachzudenken, die Seenotrettung nicht zu kriminalisieren, haben die Festungsbauer aus dem Kreis der EU-Innenminister billigend in Kauf genommen. Denn die Hardliner in Europa sind überzeugt, dass die Richtung stimmt: die sogenannte Externalisierung der Flüchtlingsabwehr. Die Orte der Menschenrechtsverletzungen sollen aus dem europäischen Blickfeld verschwinden - und in die Maghrebstaaten und die Türkei rücken.

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