Beutelkunst

Der wunderbare Schauspieler Kurt Böwe wäre 85 Jahre alt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Sparkasse. »Noch Wünsche offen? Mit uns können Sie rechnen!« Ein Slogan der Selbstwerbung. Mit der Sparkasse rechnen, da es um Kunst geht? Ja, ausgerechnet die Sparkasse als Hinwendung zur wahren Kostenfrage, nämlich: Was kostet es, die Welt in ein Spiel-Zeug zu verwandeln? Es kostet, die’s tun, das Leben. Nicht, es herzugeben, aber: es hinzugeben. Sich hinzugeben. Ans Spiel, das nichts kostet. Außer: Mut zur Wahrhaftigkeit.

Just ein Angestellter der Kreissparkasse war es, ein weißhaariger Mann namens Rudolf Hartmann, der einem Abiturienten in Kyritz »an der Knatter« 1949 ein langes, selbstverfasstes Gedicht zueignete - weil er fand, dieser Schüler Kurt Böwe gehöre auf eine Bühne. Ein Poem auf die Komödianten - und Sehnsucht wohl, wie sie nur hinter Schaltern gedeiht, die das Leben einmauern: »Wir reisen durch die Welt von Ort zu Ort,/ Sind überall und immer nur zu Gast./ Heut hier bei euch … und morgen dort -/ Ein Komödiantenvölkchen ohne Rast./ Wir kennen Mutter kaum und Vater./ Wir wissen nichts von eignem Herd und Haus,/ Die Welt, die uns gehört, ist das Theater,/ Das Fluidum der Bühne … der Applaus!«

Applaus, ja. Wobei Böwes Anfang als Schauspieler seine eigene Komik hatte. nd-Autor Volker Trauth sah im Berliner Maxim-Gorki-Theater Horst Sakowskis LPG-Schauspiel »Steine im Weg«, schrieb: »Und dann gab es da noch den Schauspieler Kurt Böwe. Der hatte eine Geste am Anfang des Stückes und überraschenderweise noch eine zum Schluss.« Böwe spielte nicht, er stand. Stand seinen Mann, denn so sahen sie aus, die Parteisekretäre von der kräftigen Stange. Trauths Beobachtung erinnert an Alfred Kerr, der erlebte in den zwanziger Jahren »Don Carlos« und kommentierte: »In der Ecke stand ein alter Eisenofen. Beim näheren Hinschauen sah ich, es war König Philipp«.

Erst mit den Jahren wurde Böwes Statuarik zur Kunst. Zur charakteristischen Inständigkeit. Zum Stämmigen zwischen geerdeter Intelligenz und listiger Einfalt. Er war als Darsteller ein bewusster Reproduzent seiner selbst, nie so sehr ein Verwandler. Der Reetzer Bauernsohn und seine Treue: zur flachen Gegend, zur gegerbten Natürlichkeit, Treue auch im beständigen Desinteresse am Piekfeinen. Nur das, was man war und bleibt, ist verwendbar für die Verkaufsregale im - Unfugladen. So nannte Böwe das Theater. Zu seinen Wurzeln gehörte auch die Fast-Karriere als Theaterwissenschaftler. Schon bedenkliche 150 Seiten betrug 1960 die Doktorarbeit über die gesellschaftliche Stellung des deutschen Berufsschauspielers von 1600 bis 1795, ehe Böwe vom Studententheater der Humboldt-Universität auf eine Bühne der Professionellen verführt und durch Regisseur Horst Schönemann der Wissenschaft auf immer entrissen wurde.

Maxim-Gorki-Theater Berlin, Landestheater Halle, Deutsches Theater Berlin. Stationen eines großen, gütigen, wunderbar vertrackten Künstlers. Aus der Existenz eines asthmatischen Jungen (»Ich war mit meiner Krankheit Fehlwuchs auf dem Hof«) wurde er in eine Berühmtheit verschlagen, die das Plebejische auf unverwechselbare Weise groß machte: »Ich bin krumm und behäbig und ein wenig ausgehangen wie die ganze DDR.«

Wer dem Publikum nur Selbstbestätigung gibt, zerstört das Theater. Wer sie ihm nur verweigert, zerstört es auch. Irgendwo dazwischen liegen Quellen, aus denen Volksschauspieler wie Kurt Böwe entstehen. Volksschauspieler. Windiger Begriff, an dem ein Ruch der Niveausenkung klebt. Böwe ist Spiel-Adel gewesen, dem die Provinz das Königreich war. Was das sei, Provinz? Den Knechten nahe zu sein. 1945 die »Freunde« als Befreier begrüßt zu haben. Als Dörfler studiert zu haben. DDR als Heimat empfunden zu haben. Immer zu groß geträumt zu haben. Sich mächtig geirrt zu haben in dem, was man Sozialismus nannte. Und doch nicht vergessen zu haben, woher man kam. Provinz, das waren Dorffeste in der Prignitz (natürlich Böwe-Feste!), das war weit mehr Durst als Biervorrat, das war ein Beutel zum Einkaufen, mehr noch: zum Schaulaufen, und das war der Stolz in der Kaufhalle, nicht als Schauspieler erkannt, sondern mit einem Bauingenieur aus Rostock verwechselt zu werden.

Er hat wahrlich die Welt durchgespielt. Hat alle agitiert: Trullesand (Kants »Aula«) und Gubanow (Stolpers »Zeitgenossen«). Hat alles erlebt: Faust; hat alle gütigst belogen: Luka (Gorkis »Nachtasyl«); hat alles tragisch ertrotzt: Michael Kohlhaas; alles erlitten: Ibsens »Volksfeind«; die eigene Klasse verflucht: Gorkis Kapitalist Jegor Bulytschow; alles plötzlich traumgespenstisch erahnt: Barlachs »Blauer Boll«; alles inszeniert: Bruscon (Bernhards »Theatermacher«); alles ermittelt: Kommissar Groth (»Polizeiruf 110«).

Im Film Rainer Simons Jadup; dann Roland Gräfs machtverfetteter Professor in »Märkische Forschungen«; Konrad Wolfs Bildhauer, der den »Nackten Mann auf dem Sportplatz« schuf; der Landarzt in Vera Loebners »Später Ankunft«, einem der schönsten DDR-Fernsehfilme. Immer wieder auch liebenswerte Großväter und witzig weise Arbeitsleute in sanften, poetischen Kinderfilmen.

Und natürlich diese Stimme - der Beste unter den Fontane-Vorlesern! Er war auch Tankred Dorsts »Herr Paul« an den Kammerspielen des DT. Herr Paul, der von seinem Sofa vertrieben werden soll - aber nicht vertrieben werden kann. Das schwere Kind, das Gewicht der Welt. Behänd wie eine Katze, der Leib aber schwer wie ein Sack. Ganz bei sich. Herr Paul war das Messer, das auf seinen Rost stolz war. Herr Paul. Herr Kurt.

Böwe wäre am 28. April 85 geworden. Er starb im Juni 2000, und wo er nur konnte, hatte er mit gnadenloser Sentimentalität Herrn Hartmanns schönes Gedicht rezitiert, das so endet: »Letzter Akt! Die letzte Szene! Abgeblendet! Sterbeszene!/ Und erlöst von allem Harme/ nimmt der Tod uns in die Arme./ Gongschlag! Ende! Vorhang fällt!/ Das war unsre Welt!« War? Kurt Böwe wird unvergessen bleiben. Oder um das Pathos zu zügeln: Der Unfugladen bleibt durchgehend geöffnet, jener Ort der Komödianten, wo wir abends über die Fragen lachen dürfen, vor denen wir tagsüber Angst haben. Und der Himmel - wo Rolf Ludwig, Dieter Franke, Martin Trettau, Dietrich Körner und eben auch dieser Klassekerl Böwe sind - ist längst eine Kantine.

Wir aber wollen der scheffelnden Sparkasse mit Milde begegnen - wer weiß, wie viele Dichter hinter den Schaltern, wie der kunstsinnige Herr Hartmann, von einem ganz anderen Leben träumen.

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