nd-aktuell.de / 07.05.2014 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 16

Patienten werden mutiger

Krankenkassen fanden 2013 weniger Behandlungsfehler bei mehr Beschwerden

Silvia Ottow
Rund 14 600 Mal prüften die Medizinischen Dienste der Krankenkassen (MDK) 2013 Anträge von Patienten, die einen Behandlungsfehler vermuteten. In 3700 Fällen bestätigte sich der Verdacht.

Gisela S. aus Berlin hat gerade Post vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen bekommen. Sie hatte sich im vergangenen Jahr nach einem Sturz den Oberschenkelhals gebrochen, der mit einem Gammanagel aus Titan stabilisiert worden war. Nur wenige Wochen nach der OP brach dieser Nagel und die Patientin musste in einem zweiten, langwierigen Eingriff von den Nagelfragmenten befreit werden und ein künstliches Gelenk bekommen. Die Patientin bat ihre Krankenkasse, die AOK, um Prüfung. Nach über einem halben Jahr bekam sie die Auskunft, dass kein Behandlungsfehler festzustellen war.

Die Berlinerin ist eine von 14 600 gesetzlich Versicherten, die sich 2013 an ihre Krankenkasse wendeten, weil sie vermuteten, falsch behandelt worden zu sein. Das sind 2000 mehr als 2012, wie der MDK gestern in Berlin bekanntgab. Behandlungsfehler wurden allerdings in weniger Fällen festgestellt. Mit 3700, waren das 200 weniger als im Jahr zuvor. Die meisten Beschwerden kamen aus der Orthopädie und Unfallchirurgie. An zweiter und dritter Stelle folgen Chirurgie und Zahnmedizin. Bestätigt wurden vor allem Fälle fehlerhafter Pflege und falscher Zahnbehandlung.

Die meisten Behandlungsfehlervorwürfe werden nach Klinikaufenthalten erhoben, Spitzenreiter sind Operationen an Knie- und Hüftgelenken. Danach kommen Zahnkaries und Oberschenkelbrüche, weitere Zahnkrankheiten und Unterschenkelfrakturen. Sozialmedizinerin Astrid Zobel vom MDK Bayern warnt aber davor, aus den vorliegenden Zahlen auf besondere Risiken in einzelnen Fachgebieten zu schließen. Dazu müssten die Fakten in Relation zur Gesamtzahl der Eingriffe in den Bereichen gestellt werden. Beschwerden können von Patienten nicht nur bei ihrer Kasse, sondern auch bei den Ärztekammern, bei Sozialverbänden oder auch auf eigenes Risiko bei Gericht eingereicht werden. Der Nachrichtenagentur dpa zufolge sind im vergangenen Jahr bei der Ärzteschaft 12 000 Anträge auf Begutachtung wegen des Verdachts auf einen Behandlungsfehler eingegangen.

»Was machen wir mit den Daten des MDK?«, fragt Hardy Müller vom Aktionsbündnis Patientensicherheit, einer Vereinigung von Patienten- und Gesundheitsorganisationen sowie Privatpersonen. Sein Bündnis hat Vorschläge gemacht. Sie betreffen vor allem die Einrichtung eines Fehlermelde- und Lernsystems in Krankenhäusern und Praxen, das Anwenden von Checklisten vor einer Operation, Teamtrainings und Handhygiene. Bedenkt man, dass nach Erhebungen des Instituts für Patientensicherheit der Universität Bonn 2010 lediglich die Hälfte alle Krankenhäuser über ein Fehlermeldesystem verfügte, erscheinen die Forderungen folgerichtig. »Irren ist menschlich, aber eine Seitenverwechslung ist sicher vermeidbar«, sagt Astrid Zobel mit Blick auf einen Fall aus dem letzten Jahr, bei dem das falsche Bein operiert wurde.

Erwartungsgemäß frostig fiel gestern die Reaktion von Ärzten und Kliniken auf die Erhebung des MDK aus. So bewegen sich die Behandlungsfehler für den Präsidenten der Bundsärztekammer, Frank-Ulrich Montgomery, im »Promillebereich«. Es werde alles unternommen, um Fehler zu vermeiden, sagt er. Der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Georg Baum, erklärt, zwischenzeitlich seien in allen Krankenhäusern Fehlervermeidungsstrategien eingeführt. Mit Fehlern werde offen umgegangen. Von linken und grünen Oppositionspolitikern kommt der Verweis auf die Lücken des Patientenschutzgesetzes und den Personalmangel in Krankenhäusern, der Fehler begünstige.

Die Patientin Gisela S. hatte ihre AOK übrigens auch aufgefordert, das Material ihres gebrochenen Gammanagels zu prüfen, der ihr aus dem Krankenhaus mitgegeben wurde. Doch niemand wollte ihn sehen. Das würde zu teuer, sagt die Mitarbeiterin der Krankenkasse am Telefon. Das mache man höchstens bei Firmen, die bekannt für Probleme seien.