Atlaskarten als Politikum

Wie die Braunschweiger Traditionsfirma Diercke auf die Ukraine-Krise reagiert

  • Lesedauer: 3 Min.
Atlas-Autoren müssen ständig Veränderungen im Blick haben, etwa neue Staudämme oder Grenzverläufe. Besonders heikel sind politische Krisen - wie in der Ukraine.

Braunschweig. Ganz gleich ob Sudan, Kaschmir oder jetzt die Ukraine - die Konflikte der Welt reichen bis nach Braunschweig in die Redaktion des Diercke-Atlas. Kartographen und Redakteure tüfteln hier an Computern und brüten über Karten. Sie machen sich Gedanken, wie Staaten, Grenzverläufe und Ozeane für den Unterricht am besten darzustellen sind. Seit mehr als 130 Jahren lernen Schüler mit Hilfe des Atlaswerkes, die Erde zu verstehen. Jedes Jahr gibt es einen Neudruck, etwa alle fünf Jahre werden die fast 50 verschiedenen Atlanten der Verlagsgruppe Westermann komplett überarbeitet.

Mitten in der Ukraine-Krise geht es derzeit darum, wie die Russland beigetretene Halbinsel Krim künftig auf der Landkarte aussehen könnte. »Da haben wir schon eine Lösung, die wir zücken können«, sagt Redakteur Reinhold Schlimm. Voraussichtlich werde man die umstrittene Grenze durch eine gestrichelte Linie kennzeichnen, jedoch bleibe die Krim auf der Karte weiterhin gelb wie die Ukraine und nicht in grüner Farbe wie Russland. Der textliche Hinweis könne »von Russland verwaltet« lauten, sagt Schlimm. »Das ist am neutralsten.«

Jedes Jahr müssen die Diercke-Autoren Lösungen für die Darstellung von etwa einem Dutzend neuer politischer Konflikte suchen. Die Kartenmacher stehen in ständigem Kontakt zu rund 200 Experten und Institutionen - von einzelnen Geografie-Professoren über den Deutschen Wetterdienst bis zu den Vereinten Nationen.

Bei politisch strittigen Fragen haben die Kultusministerkonferenz und das Außenministerium das letzte Wort. So ist beispielsweise Kosovo als Staat eingezeichnet, weil Deutschland ihn - anders als andere UN-Mitgliedsstaaten - als unabhängig anerkannt hat. Nach Einschätzung der Redakteure wird die EU wahrscheinlich noch lange darauf beharren, dass die Krim zur Ukraine gehört.

»Karten sind keine unpolitischen Darstellungen der Realität«, betont Georg Stöber vom Georg-Eckert-Institut in Braunschweig, dem Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung. »Politik spielt in die Schule, spielt in die Erziehung hinein.« Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Deutschland in den Grenzen von 1914 dargestellt, nach dem Ende der Nazi-Diktatur in den Grenzen von 1937. »Der Begriff DDR wurde nicht verwendet«, sagt Stöber. Heutzutage sei der Einfluss der Politik in anderen Ländern aber größer als in Deutschland.

Atlas-Autoren bekommen massenweise Briefe von Lehrern, Schülern und an Erdkunde interessierten Bürgern. Manchmal stehen auch Diplomaten leibhaftig in der Redaktion und bringen ihre Beschwerden vor. »Der Streit zwischen Japan und Südkorea fällt immer auf uns zurück«, berichtet Schlimm. »Die Südkoreaner ärgern sich darüber, dass ihr Ostmeer bei uns seit über 130 Jahren Japanisches Meer heißt. Und die Japaner passen auf, dass es beim Japanischen Meer bleibt.« Als diplomatische Lösung steht jetzt in Klammern Ostmeer hinter dem Japanischen Meer. Häufig hat der Streit um Seegrenzen mit Ansprüchen auf Bodenschätze oder Fischereizonen zu tun.

Knifflig sind darüber hinaus Ortsnamen. Nach einem Beschluss der Kultusministerkonferenz von 1991 sind ausländische Städte und Orte mit den herkömmlichen deutschen Namen zu benennen. In Klammern soll dazu der Name in der Landessprache stehen.

Der Ständige Ausschuss für geografische Namen berät die Bundesregierung in diesen Fragen. Geschäftsführer Bernd Beinstein sagt: »Wir empfehlen wie die Vereinten Nationen möglichst die Originalform zu nehmen, also Warszawa statt Warschau.« dpa/nd

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal