Spermien unter Stress

RNA-Moleküle übertragen körperliche Folgen von traumatischem Erleben an die nächste und übernächste Generation

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

In Unkenntnis dessen, was wir heute Genetik nennen, entwickelte Charles Darwin 1868 sein eigenes Konzept der Vererbung: die Pangenesistheorie. Danach sondern alle Zellen des Körpers winzige Partikel ab, die über den Blutkreislauf in die Keimzellen (Spermien, Eier) und damit in die nächste Generation gelangen. Da diese Partikel, wie Darwin weiter annahm, durch Umwelteinflüsse modifiziert werden können, etwa durch den Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe, aus denen sie stammen, ist es möglich, dass individuell erworbene Körpereigenschaften von einer Generation auf die nächste übergehen.

Man spricht deshalb hier auch von »weicher Vererbung«, für die sich überdies der Begriff Lamarckismus eingebürgert hat. Zu den schärfsten Kritikern dieses Modells gehörte im 19. Jahrhundert der deutsche Zoologe August Weismann, der aber nicht nur theoretisch argumentierte. Um seine Ablehnung empirisch zu erhärten, führte er 1887 ein Experiment durch, das ihm heute vermutlich viel Kritik einbringen würde: Er schnitt weißen Mäusen in 22 Generationen die Schwänze ab, ohne dass danach auch nur eine schwanzlose Maus das Licht der Welt erblickt hätte.

In der Folge formulierte Weismann die sogenannte Keimbahntheorie, die eine »harte Vererbung« festschreibt. »Hart« bedeutet hier, dass die Keimzellen eines Organismus und somit dessen Erbanlagen weder durch das beeinflusst werden können, was der Körper lernt, noch durch irgendwelche Fähigkeiten, die er im Verlaufe des Lebens erwirbt.

Oder in molekularbiologischen Begriffen ausgedrückt: Von den Proteinen, den Funktionsträgern der Zelle, gelangt keine Information in die DNA. Zwar werden in der Entwicklung eines Individuums Gene an- und abgeschaltet, auch und vor allem unter dem Einfluss der Umwelt. Die Basenfolge der DNA bleibt davon jedoch unberührt. Die DNA ist gewissermaßen schreibgeschützt. Denn ein Übermaß an genetischen Veränderungen würde den Fortbestand biologischer Arten gefährden.

Obwohl diese Erkenntnis als »Zentrales Dogma der Molekularbiologie« in die Lehrbücher einging, ließen Wissenschaftler nicht davon ab, nach weiteren Mechanismen der Vererbung zu suchen. Dabei wurden in den letzten Jahren unter dem Stichwort »Epigenetik« durchaus beeindruckende Resultate erzielt. Ein Beispiel: In den Körperzellen eines Menschen befinden sich auf der DNA kleine chemische Marker, sogenannte Methylgruppen, die die Genaktivität und mithin die Produktion bestimmter Proteine in der Zelle regeln. Die Methylierungsmuster der DNA sind jedoch individuell verschieden, denn in ihnen schlagen sich auch die speziellen Umwelterfahrungen eines Menschen nieder, etwa sein Umgang mit Stress. Das nennt man Epigenetische Prägung. Das Entscheidende aber ist: Bei der Bildung von Ei- und Samenzellen gehen die zuvor entstandenen Methylierungen der DNA nicht allesamt wieder verloren. Sie bleiben teilweise erhalten und werden an die nächste Generation vererbt.

Eine Forschergruppe um die Zürcher Neurobiologin Isabelle Mansuy hat jetzt einen weiteren, eventuell damit verbundenen Mechanismus der Vererbung entdeckt, der ein wenig an Darwins Pangenesistheorie erinnert. Danach führt traumatischer Stress im Körper zur verstärkten Freisetzung von kurzen RNA-Molekülen, sogenannten microRNAs, die mittels Spermien auch in die nächste Generation gelangen können. Im Allgemeinen erfüllen microRNAs in den Zellen regulierende Funktionen; sie steuern beispielsweise, wie viele Kopien eines bestimmten Proteins dort hergestellt werden.

Für ihre Studie hatten Mansuy und ihre Kollegen zunächst die Art und Anzahl verschiedener microRNAs bestimmt, und zwar bei Mäusen, die als Jungtiere mehrfach von ihrer Mutter getrennt und damit gleichsam traumatisch gestresst worden waren. Dann verglichen die Forscher die so gewonnenen Daten mit jenen von nicht gestressten Mäusen. Ergebnis: Ausgelöst durch Stress kam es zu einer ungleichgewichtigen Verteilung der microRNAs in Blut, Gehirn und Spermien. Genauer gesagt waren in den Zellen der gestressten Mäuse von einigen microRNAs mehr, von anderen weniger vorhanden als in den entsprechenden Zellen der Kontrolltiere. Das wiederum führte bei den gestressten Mäusen zu einer Beeinträchtigung des Stoffwechsels. Außerdem verloren die Tiere im Experiment ihre natürliche Scheu vor offenen Räumen und hellem Licht.

Diese physiologischen und Verhaltensabweichungen, so berichten die Forscher im Fachblatt »Nature Neuroscience« (DOI: 10.1038/ nn.3695), blieben auch in der nächsten und übernächsten Generation erhalten, obwohl die Nachkommen der gestressten Mäuse selbst keine Stresserfahrungen machten. Was aber veranlasste die Vererbung der Stressfolgen? Offenkundig waren es die mit microRNAs »kontaminierten« Spermien. Denn als die Forscher microRNAs aus solchen Spermien extrahierten und in normale Mäuseembryos spritzten, zeigten auch diese Tiere später die erwähnten Verhaltensauffälligkeiten. Injizierte man Kontroll-RNA in Mäuseembryos, geschah nichts dergleichen.

»Mit dem Ungleichgewicht der microRNAs in Spermien haben wir erstmals einen Informationsträger entdeckt, über den Traumata vererbt werden können«, sagt Mansuy, die als Doppelprofessorin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) sowie der Universität Zürich lehrt. Ihrer Ansicht nach funktioniert der beschriebene Mechanismus auch bei Eizellen und ist für die Traumavererbung bei Menschen ebenso von Bedeutung wie für die Vererbung anderer erworbener Eigenschaften: »Die Umwelt hinterlässt Spuren im Gehirn, den Organen und auch in Keimzellen. So werden diese Spuren teilweise an die nächste Generation weitergegeben.«

Obwohl hier explizit von der Vererbung erworbener Eigenschaften die Rede ist, wird durch die Stressversuche nicht der Lamarckismus rehabilitiert. Im Gegenteil. Die in Zürich durchgeführten Experimente gehören alle in die Kategorie nicht- bzw. epigenetische Vererbung. Denn nirgends kam es zu einer umweltinduzierten Veränderung der Basensequenz der DNA. Das heißt: Traumatischer Stress erschafft in genetischer Hinsicht nichts Neues, sondern modifiziert nur das vorhandene Erbmaterial bzw. die Aktivität der Gene. Gleichwohl werden die Stressfolgen oft über mehrere Generationen vererbt. Für Menschen kann das bekanntlich viel Leid und Schmerz bedeuten. Isabelle Mansuy geht aber noch einen Schritt weiter. Sie ist überzeugt, dass vererbbare epigenetische Veränderungen auch die Evolution beeinflussen. Wie nachhaltig dies geschieht, bleibt freilich noch zu erforschen.

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