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Die Nachwelt im Blick

Die Motive von Laien-Autoren sind breit gefächert

  • Lesedauer: 8 Min.
Werner Schönfeld schrieb zwei Jahre an seinen Lebenserinnerungen. Das 600-seitige Werk erschien 2013. Kontakt: schoenfeldtw@aol.com
Werner Schönfeld schrieb zwei Jahre an seinen Lebenserinnerungen. Das 600-seitige Werk erschien 2013. Kontakt: schoenfeldtw@aol.com

Die einen tun es alleine, andere brauchen Mitstreiter, Helfer, Berater - die Möglichkeiten, ganz persönliche Erinnerungen schriftlich festzuhalten, sind so verschieden wie die Autoren. Da ist zunächst der Einzelkämpfer. Werner Schönfeldt hat, nachdem er in Rente gegangen ist, zwei Jahre in Berlin zu Hause am Schreibtisch gesessen, um eine Mischung aus Tagebuch, Erinnerungen und Visionen aufzuschreiben. »Achtzig verrückte Erdenjahre und ich mittendrin«, heißt der fast 600 Seiten umfassende Wälzer, der 2013 erschienen ist. Und ganz nebenbei den früheren Offizier und späteren Historiker eine ganze Stange Geld für Schreib- und Verlagsarbeiten gekostet hat. Abgesehen davon, dass Schönfeldt die ihn berührenden und eher privaten Veränderungen in seinem eigenen »kleinen« Leben bisweilen nur ganz kurz notiert, während er den Entwicklungen im »großen« Leben zwischen Kubakrise, Gagarins Weltraumflug, dem Bau der Berliner Mauer, dem Chile-Putsch und den dramatischen Ereignissen in der DDR im Herbst 1989 mehr Platz einräumt - der Mann begnügt sich nicht etwa mit der Rekapitulation des Gewesenen.

Und war, so kann man nachlesen, nicht erst bei der Aufzeichnung seiner Erinnerungen ein Einzelkämpfer. Er, der sich schon vor Jahrzehnten mit standardisierten Leichtbausystemen beschäftigt - und weder in der DDR noch in der Bundesrepublik damit in Wirtschaft wie Politik auf Gegenliebe gestoßen ist -, will einfach nicht aufgeben. Sein »Memorandum«, mit dem er eine Bresche für Einfachtechnologien schlagen will, die ihm geeignet scheinen, nicht nur beschäftigungspolitisch voranzukommen, sondern auch viele Probleme in der sogenannten Dritten Welt zu lösen, ist der eigentliche Schwerpunkt in seinem Buch. »Man kümmert sich immer nur um Hochtechnologien, die Einfachtechnologie wird sträflich vernachlässigt«, ist sich Schönfeldt sicher.

Ungeachtet der Tatsache, dass er einst gehörig »abgebürstet« wurde und heute einfach ohne Echo bleibt, hat er jetzt in Buchform hinterlassen, was ihm wichtig ist. Vielleicht hat er sich damit auch den Frust von der Seele geschrieben, Ernüchterung und Enttäuschung einen Raum gegeben. Aber die Hoffnung auf eine bessere und gerechtere Gesellschaft, sein Traum von Rot-Rot-Grün und die Gewissheit, dass die Menschheit irgendwann »erwachsen« wird, hat der Autor keinesfalls aufgegeben. Und damit er all das von ihm Ersehnte noch erleben kann, schlägt er seinen Bogen bis 2027, wo er selbst 80 Jahre alt würde, seine Idee überall in der Welt Anwendung und Anerkennung finden - und Schönfeldt allen Unkenrufen zum Trotz den »Nobelpreis« für Wirtschaft erhält.

Derlei Sehnsüchte und Selbstüberhöhungen sind den »Roten Federn« in Frankfurt an der Oder vermutlich ziemlich suspekt. Im Gegenteil, sie mussten vielmehr fast durch die Bank zum »Jagen« getragen werden. Erik Rohrbach macht kein Hehl daraus, die meisten seiner inzwischen 17 Autoren von Minibüchern zum Schreiben überredet zu haben. »Mein Leben ist doch gar nicht so interessant«, hätten viele gezögert, als der 73-Jährige sie angesprochen hat, Episoden ihres Lebens zu »verewigen«. Doch an den in Bratislava auf Kosten der Verfasser produzierten kleinen Bänden mit dem Goldschnitt könne man sehen, wie viel Bewahrenswertes da zusammengetragen worden ist. Na klar - das ist keine Literatur, aber »das Normale ist das Besondere«, ist sich Rohrbach sicher. Und so entstanden Zeitzeugnisse von Chronisten, die es bisweilen in sich haben. Denn ein jeder habe erfahren, so der Initiator einer Wiederbelebung des Bitterfelder Weges in der Frankfurter Variante, dass man beim Schreiben viel von sich preisgibt.

Rohrbach, im früheren Leben FDJ- und SED-Funktionär, Trassenbauer in der Sowjetunion, nach der Wende Versicherungsverkäufer und heute zweiter Kreisvorsitzender der Linkspartei in der Oderstadt, hat sein Faible für die kleinen Bücher seit Jahrzehnten gepflegt und inzwischen selbst 40 davon herausgegeben. »Uns geht es nicht um irgendwelche chronologischen Abrisse, sondern um kleine lustige oder traurige Geschichten und Begegnungen, die jeder erlebt hat, zu skizzieren und der Nachwelt zu erhalten«, sagt der Mann, der durchaus als unruhiger Geist gelten kann. »Viele unserer Genossen können aus Altersgründen heute nicht mehr an Infoständen stehen oder Plakate aufhängen - haben aber viel zu sagen, und indem sie das aufschreiben, fühlen sie sich gebraucht«, weiß Rohrbach. Für ihn ist das Schreiben ein Teil der Parteiarbeit. Das sehen andere Genossen anders, ahnt er und toleriert es auch. Dennoch wünschte er sich für diesen Teil des gesellschaftlichen Engagements, das in der LINKEN doch noch eher eine Ausnahme ist, etwas mehr Akzeptanz und Anerkennung.

Dass man bei den »Roten Federn« das Produzierte in öffentlichen Veranstaltungen vorstellt und diskutiert, die inzwischen auch von jüngeren Buchfreunden besucht werden, gehört nicht nur zu seiner Auffassung von »betreutem Schreiben« - es wiederbelebt auch die bisweilen mangelnde Gesprächskultur unter Gleichgesinnten. Und dass viele seiner Autoren inzwischen die Freude am Schreiben entdeckt und Stück für Stück ihren eigenen Stil herausgebildet haben, macht ihn stolz. Sein Lieblingsbeispiel ist Gerhard Stockenberg, der inzwischen 94-Jährige, der ihm erst nach seinem 90. Geburtstag resolut beschied, höchstens ein einziges Büchlein verfassen zu wollen. Unlängst hat er seinen sechsten Band vorgestellt.

Nicht nur Freunde und Familienmitglieder wissen inzwischen, dass Stockenberg und die anderen ihre Werke alljährlich zum traditionellen Brückenfest der Linkspartei verkaufen. Bis ins Rathaus haben sich die »Roten Federn nämlich längst einen Namen gemacht. Mit dem Resultat, dass drei von ihnen - Rohrbach, Stockenberg und Hertha Scholze, die so Feinfühliges zu Papier bringen kann - sich vor wenigen Monaten ins Goldene Buch der Stadt eintragen durften. Eine Ehre sowieso, Wertschätzung auch - und ein Novum. Seit der Wende sind sie die ersten aus PDS bzw. Linkspartei, deren Namen sich in diesem dicken Buch finden.

Inzwischen machen die Frankfurter «Federn» oft auch gemeinsame Sache. Vier Anthologien haben sie herausgegeben - zuletzt waren 62 Autoren an einem Erinnerungsband für den 2012 verstorbenen ehemaligen SED-Oberbürgermeister Fritz Krause beteiligt - ein Mann, den die Frankfurter so schätzten, dass er bis zu seinem Eintritt ins Rentenalter auch über die Wende hinaus im Rathaus tätig war. Zudem haben die linken Schreiber aus Frankfurt sukzessive ihren Aktionsradius vergrößert. Einige von ihnen waren in Straßburg beim Europarat, einige in Basel bei Luise Steber-Keller, einer Genossin von der Partei der Arbeit, die nach einem nd-Beitrag bei Rohrbach angerufen hatte und ihre Mitarbeit an der Anthologie «Lebenszeit» anbot. Natürlich hat sie dort einen Platz für ihre Lebenserinnerungen gefunden.

Den hätte sie auch bei Rolf Funda haben können. Der nämlich ist Initiator des Vereins «Erinnerungsbibliothek DDR», den es seit knapp zwei Jahren gibt. Der Veterinärmediziner und einstige PDS-Landtagsabgeordnete in Sachsen-Anhalt bastelt schon länger an seinem Traum, möglichst viele der in Ostdeutschland seit der Wende erschienenen Lebenserinnerungen zu sammeln und der Nachwelt zu erhalten. Begonnen hat das für den 74-Jährigen mit seiner eigenen Autobiografie «Mein Leben mit Rindviechern, Politikern und Menschen» und einem nd-Beitrag, der auf außerordentlich große Resonanz gestoßen ist. Hatten bis dato viele Hobby-Autoren ganz allein und zumeist nur für ihre Kinder und Enkel geschrieben, klingelt inzwischen mehrmals wöchentlich der Paketbote bei den Fundas in Staßfurt - und bringt kleine, große, dünne und dicke Bücher bei ihm vorbei, die im Laufe der Jahre in vielen ostdeutschen Haushalten entstanden sind.

Aus Fundas Idee wurde ein Verein mit inzwischen fast 100 Mitgliedern, der sich die Sammlung von selbstverfassten Büchern über das Alltagsleben in der DDR auf die Fahnen geschrieben hat - und nach wie vor nach der optimalen Möglichkeit sucht, diese einzigartigen Zeugnisse aus einem untergegangenen Land als Ganzes aufzubewahren. Ende Juni will der Vorstand erneut darüber beraten, wo er den geeigneten Ort für die Schritt für Schritt wachsende Bibliothek sieht, die inzwischen aus gut 500 Büchern besteht und wächst und wächst.

«Wenn es die Wende nicht gegeben hätte, wären nicht so viele Bücher entstanden», ist sich der Staßfurter sicher. Viele der heutigen Autoren wären 1989 in der Blüte ihres Leben gewesen und dann von einem auf den anderen Tag nicht mehr gebraucht worden. Sie hätten gegen das Vergessen angeschrieben und zudem zu erkunden versucht, was sie geschafft haben und was nicht - welchen Wert ihr Leben tatsächlich gehabt hat. Nicht nur Generaldirektoren, Hochschullehrer, Botschafter, Künstler, und Wissenschaftler hat das umgetrieben. Auch viele andere, die mit dem Schreiben bislang nicht viel am Hut hatten und deren Betriebe Anfang der 90er Jahre durch die Treuhandanstalt platt gemacht worden waren.

Richtig fuchtig kann Funda werden, wenn deren Zeitzeugenschaft als «Manie der Selbstauskunft» abqualifiziert wird, wie er das unlängst auch im «neuen deutschland» lesen musste. Die Autoren würden in ihren Büchern über ihr Leben berichten, über ihren oft schweren Weg in Krieg und Nachkriegszeit, über die Chance, die ihnen die junge DDR gab, über die Arbeiter- und Bauernfakultät oder andere Bildungseinrichtungen den Weg zur Hochschule zu finden und sich zu hoch qualifizierten Fachleuten in den verschiedensten Berufen zu entwickeln, gibt er empört zu Protokoll - und muss es wissen, denn er hat die meisten von ihnen gelesen und lange Gespräche mit den Autoren darüber geführt. «In allen diesen Lebensberichten wird über Freud und Leid, über Erfolg und Versagen geschrieben, darüber, was die DDR so lebenswert gemacht hat und was äußerst kritikwürdig an diesem ersten Sozialismusversuch auf deutschem Boden war», verteidigt Funda die «Werke», die in der Erinnerungsbibliothek ihren Platz gefunden haben. Nicht wenige würden über die blauen Flecke berichten, die sie sich in ihrem Land geholt haben, aber auch, wie sie mit ganzer Kraft am Aufbau «ihres Staates» mitgewirkt haben.

«Unsere Erinnerungsbibliothek ist keine Märchenbuchsammlung», entgegnet der Initiator all jenen, die den Trend zur Schreiberei nur mit dem hässlichen Wort Nostalgie abtun wollen. Ganz im Gegenteil. Funda hat die Zukunft im Blick. «Wir sammeln nicht für heute, sondern für die Zeit weit nach uns», sagt er. Künftige Forscher, die dem einmaligen Experiment DDR auf den Grund gehen wollten, sollten Informationen aus erster Hand erhalten und nicht nur auf Informationen von Leuten zurückgreifen müssen, «die niemals hier gelebt haben oder DDR-Hasser waren und sind».

Erik Rohrbach von den »Roten Federn« aus Frankfurt an der Oder hat 17 Autoren gewonnen, die Episoden ihres Lebens in Minibüchern für die Nachwelt festhielten. Kontakt: erik.rohrbach@t-online.de
Erik Rohrbach von den »Roten Federn« aus Frankfurt an der Oder hat 17 Autoren gewonnen, die Episoden ihres Lebens in Minibüchern für die Nachwelt festhielten. Kontakt: erik.rohrbach@t-online.de
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