Die letzte Liebe des Bohemiens

Volker Weidermann erzählt von einem »Sommer der Freundschaft« - und setzt Joseph Roth ein Denkmal

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Genre lebt: Eine Jahreszahl, ein Ort oder ein ganzer Kontinent, Persönlichkeiten aus Literatur- und Kulturbetrieb, Ausschnitte aus Biographien fügen sich zu einem Blitzlicht. Zuletzt bejubelt in »1913« von Florian Illies. Erfunden und zu weltweit geschätzter Meisterschaft gebracht hat dieses Genre Stefan Zweig mit »Sternstunden der Menschheit«. Dieser Meister der historischen Momentaufnahme steht auch im Mittelpunkt eines amüsanten und zugleich tieftraurigen Buches von Volker Weidermann, Feuilletonchef der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«: »Ostende. 1936 - Sommer der Freundschaft«.

Das mondäne belgische Seebad war in diesem Sommer, in dem sich Hitlerdeutschland während der Olympischen Spiele in Berlin als Wolf im Schafpelz verkleidete, Treffpunkt bedeutender deutschsprachiger Autoren, die sich nicht mehr in dieses Deutschland wagen konnten. Das, was Sanary an der Côte d’Azur für die Familie Mann und viele andere bedeutete, war Ostende für andere: ein Sommer des Abschieds. Stefan Zweig hatte schon wenige Tage vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Ostende auf die »Welt von gestern« zurückgeblickt. Zweiundzwanzig Jahre später hoffte er schon nicht mehr auf die Kraft der europäischen Zivilisation.

Zu Stefan Zweig, der seine Sekretärin und spätere Ehefrau Lotte Altmann aus London »mit Maschine« (gemeint war die Schreibmaschine) anreisen ließ, stieß sein »Bruder« Joseph Roth. Vor allem ihm, der am 27. Mai 1939, vor 75 Jahren, starb, hat Volker Weidermann mit diesem Buch ein beeindruckendes Denkmal gesetzt.

In diesen viel älteren, unattraktiven, dabei literarisch glänzenden Mann verliebte sich Irmgard Keun, die zwar keine rassistische Verfolgung befürchten musste, aber mit Courage auf die Zumutungen der Nazis reagierte und »freiwillig« ins Exil gegangen war. In ihr fand Joseph Roth seine letzte Geliebte. Er war Trinker, Verschwender, Extrem-Bohemien und musste sich hier wie auch später in Paris von dem Millionär Stefan Zweig aushalten lassen.

Wundervoll schildert Volker Weidermann Joseph Roths würdigen Stolz, als er zu der maßgeschneiderten Hose, die ihm Zweig anfertigen ließ, auch noch mit seiner ganzen galizischen Chuzpe den Rock einforderte. Zu der Runde stoßen nach und nach »der rasende Reporter« Egon Erwin Kisch, Hermann Kesten, der Papst der kommunistischen Presse Willi Münzenberg, Artur Koestler, der Kommunist, der später als »Renegat« in seinem Buch »Sonnenfinsternis« seine frühere Überzeugungen widerrufen würde. Der Filmemacher Géza von Cziffra trifft für ein paar Tage ein, wird von den übrigen »Kurgästen« mit Misstrauen empfangen. Ernst Toller kommt mit seiner jungen Schauspieler-Gattin.

Was für eine illustre Runde da in den einschlägigen Cafés des Seebades zu erleben ist, vor allem im »Flore«. Manche trinken über den Durst und über ihre Verhältnisse. Die Unterhaltungen, die der Chronist aus vielen Quellen rekonstruiert und mit seiner großen Kenntnis der Literatur dieser Sommergäste in Ostende anreichert, sind geistreich, oft von sprühendem Witz oder auch lähmender Depressivität.

Neid und Missgunst ergießen sich vor allem über den abwesenden Thomas Mann. Existenzangst befällt fast alle angesichts verloren gehender Publikationsmöglichkeiten. Sarkasmus breitet sich aus, aber eben auch Humor, den Weidermann ebenso beherrscht, wie die Schar der Exilanten, die er für seine Leser belauscht hat.

Das schmale Ostende-Buch kommt ein bisschen schwer in Gang. Aber wer die ersten Seiten überstanden hat, wird reich belohnt. Es folgen eine kleine Literaturgeschichte, ein schon stark eingetrübtes Sommerbild des Exils, ein Feuerwerk voll literarischem Esprit und Witz und ein Nachwort, in dem das Leben und oftmals traurig stimmende Sterben der Teilnehmer dieser »Gruppe 36« kurz dokumentiert ist.

Das damalige Ostende wurde 1944 durch Luftangriffe der Alliierten fast vollständig zerstört. Joseph Roths melancholische Erinnerung an das Habsburger Reich des »Radetzkymarschs« überträgt sich auf den Leser und gilt diesem »Sommer der Freundschaft«, als alle schon ahnten, was kommen würde.

Volker Weidermann: Ostende. 1936 - Sommer der Freundschaft. Kiepenheuer & Witsch. 160 S., geb., 17,99 €.

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