Mit Maschinengewehrfeuer niedergemäht oder verbrannt

Vor 70 Jahren ermordete die SS im französischen Dorf Oradour über 600 Menschen / BRD-Justiz hat sich einer Aufarbeitung stets verweigert

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.
Das Massaker von Oradour-sur-Glane mit seinen 642 Opfern hat in Frankreich eine tiefe Wunde hinterlassen, die bis heute schmerzt.

Vier Tage nach der Landung alliierter Truppen in der Normandie wurde im mittelfranzösischen Dorf Oradour-sur-Glane eines der grausamsten Verbrechen des Zweiten Weltkriegs verübt. Daran erinnern heute noch die Ruinen der 123 niedergebrannten Häuser. Angehörige der SS-Division »Das Reich«, die im Eilmarsch von Südfrankreich in die Normandie unterwegs war, um dort die Alliierten aufzuhalten, und die immer wieder von Kämpfern der Résistance angegriffen wurden, haben den Ort besetzt und die gesamte Bevölkerung ermordet - 642 Menschen, darunter 240 Frauen und 205 Kinder. Von den Leichen konnten nur 52 identifiziert werden.

Divisionskommandeur General Heinz Lammerding wollte zur Abschreckung ein Exempel statuieren und hatte die »komplette Vernichtung« befohlen. Die Männer wurden zusammengetrieben und mit Maschinengewehrfeuer niedergemäht, die Frauen und Kinder in die Kirche eingesperrt, die dann mit Benzin und Handgranaten in Brand gesteckt wurde. Alle kamen grauenhaft ums Leben. Anschließend wurde der ganze Ort niedergebrannt.

Weniger als ein Dutzend Menschen konnte flüchten. Von ihnen lebt heute nur noch einer - Robert Hébras. Im Gegensatz zu den Lügen der SS-Leute, die auch später immer wieder behaupteten, Oradour sei ein »Bandennest« voller Waffen und Sprengstoff gewesen, gab es hier keine Widerstandsgruppe. Ein Militärgericht in Bordeaux hat 1953 sieben deutsche und 14 elsässische SS-Angehörige - darunter kein einziger Offizier - für die Beteiligung an dem Massaker zu Gefängnisstrafen verurteilt. General Lammerding, den ein französisches Gericht 1951 in Abwesenheit zum Tode verurteilt hatte, war in Bordeaux als Zeuge geladen, aber die »Rechtsschutzstelle des Auswärtigen Amtes« der BRD riet von der Reise ab, denn es sei »mit einer Verhaftung durch die Franzosen zu rechnen«.

1983 fand in der DDR-Hauptstadt Berlin ein Prozess gegen den ehemaligen SS-Untersturmführer Heinz Barth statt, der dank falscher Angaben über seine Offizierskarriere im Krieg lange unbehelligt in Gransee gelebt und beim Konsum gearbeitet hatte. Barth wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, kam aber nach der deutsch-deutschen Vereinigung frei und erhielt eine Kriegsversehrtenrente.

Hébras, der im Barth-Prozess Zeuge war, würdigte gegenüber »nd«, dass die DDR Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt hat, während sie im Westen meist ungeschoren blieben oder gar Karriere machten. So wurde Lammerding ein erfolgreicher Bauunternehmer in Düsseldorf. Er starb 1971, ohne dass ihn die Justiz je behelligt hätte. 200 SS-Kameraden, darunter 20 Ritterkreuzträger, folgten seinem Sarg, auf dem seine Orden prangten. Bis zuletzt hatte Lammerding behauptet, das Massaker in Oradour sei eine »Eigenmächtigkeit« von Kompaniechef Otto Kahn gewesen, für die er ihn »gerügt« habe. Wie praktisch, dass Kahn Wochen nach Oradour im Krieg starb.

In den Nachkriegsjahren wurde die Lüge von der »Vergeltung für Verbrechen der Widerstandsgruppen« gepflegt und hat bis in unsere Tage Eingang in viele Bücher gefunden. SS-Obersturmbannführer Otto Weidinger schrieb in der Zeitschrift der SS-Nachfolgeorganisation HIAG, ohne einen dicken Schlussstrich unter den unseligen Kampf der Résistance gegen die Division »Das Reich« könne es auch keine endgültige Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich geben. »Wir (die SS, d. A.) sind dazu bereit.« Eine schauerliche Vision - die Opfer sollen den Mördern vergeben.

Viele Jahre lang hat die Bevölkerung der neben den Ruinen neu errichteten Ortschaft Oradour, in der jetzt Angehörige und Nachfahren der Opfer leben, bei den jährlichen Gedenkveranstaltungen keine deutschen Regierungsvertreter geduldet. Als erster Bundeskanzler äußerte sich 2004 Gerhard Schröder zum Massaker von Oradour und bat die Bürger des Ortes um Entschuldigung. Erst 2013 ist mit Joachim Gauck ein deutsches Staatsoberhaupt nach Oradour gekommen. Zusammen mit Präsident François Hollande ließ er sich in einer Geste der Versöhnung von Hébras das Martyrium von Oradour schildern.

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