nd-aktuell.de / 13.06.2014 / Politik / Seite 2

ISIS zeigt Ankara die Muskeln

Unklare Motive für die Geiselnahme von Mossul / Experte warnt vor zweitem Afghanistan vor türkischer Haustür

Jan Keetman
Der Dschihadistenvormarsch in Irak hat auch die Türkei getroffen. Seit Dienstag befinden sich 49 Personen in Geiselhaft, die aus dem türkischen Konsulat in Mossul entführt worden waren.

Auf den ersten Blick mag man sich die Augen reiben: Da vertreiben Kämpfer der Organisation Islamischer Staat in Irak und Syrien (ISIS) erst die Truppen des irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki aus Mossul und nehmen dann als erstes das Personal des türkischen Konsulats als Geiseln. 31 türkische, mutmaßlich mehrheitlich türkisch-kurdische Lkw-Fahrer, unterwegs von der Türkei nach Irak, waren kurz zuvor ebenfalls als Geiseln genommen worden. Am Donnerstag kamen sie wieder frei.

Dies alles sieht nach einer Verletzung des Prinzips aus, wonach meines Feindes Feind mein Freund ist. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und sein irakischer Kollege Nuri al-Maliki sind geschworene Feinde. Die Türkei hat auch den sunnitischen Politiker und ehemaligen Vizepräsidenten Iraks Tariq al-Haschimi aufgenommen, der wegen angeblich in Auftrag gegebener Terrorakte in Bagdad in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war. Erdogan, selbst Sunnit, ist auf diese Weise fast zum Advokaten der Sunniten in Irak geworden, Warum also ist ISIS gegen die Türkei?

Es fehlt nicht an Verschwörungstheorien. Eine davon behauptet, dass die Geiselnahme mehr zum Schein erfolgte, um die US-amerikanische Regierung zu täuschen, von der es ohnehin heißt, dass ihr die Beziehungen Ankaras zu Al Qaida nahestehenden Gruppen in Syrien zu weit gehen. Doch solcher Theorien bedarf es gar nicht. Die radikalen Islamisten im Nahen Osten sind keineswegs vereint, und es ist schier unmöglich, zu ihnen allen gute Beziehungen zu unterhalten.

Außerdem setzte Ankara in Syrien auf salafistische Gruppen, die von Katar unterstützt werden. Die wurden aber von ISIS besiegt. Die Beziehungen zu ISIS sind - so weit stimmt eine Voraussetzung der Verschwörungstheorie - für Washington nicht akzeptabel.

Die Türkei hat sich entschieden, und ihre bevorzugten Partner in Irak sind ausgerechnet die Kurden. Sie beherrschen ein stabiles Gebiet mit einer Menge Erdöl. Mit ihnen können türkische Ölfirmen lukrative Förderverträge schließen. Irakisch-Kurdistan ist selbst ein kleiner, aber dank des Erdöls ebenfalls lukrativer Markt.

ISIS zeigt nun der Türkei die Muskeln. Vor allem geht es wohl darum, dass die Türkei sie als politische Größe anerkennt. Immerhin beherrscht ISIS fast alle Grenzübergänge nach Syrien und nun auch die Straßen durch das Gebiet von Mossul und hat die Möglichkeit, die Erdölpipeline zwischen beiden Staaten zu blockieren, von der sowohl Irak als auch die Türkei enorm profitieren. Eine andere Option Ankaras ist es, die irakischen Kurden in einem möglichen Krieg gegen ISIS zu unterstützen. Kurdische Peschmerga haben bereits das von irakischen Truppen ebenfalls geräumte Erdölzentrum Kirkuk übernommen.

Der türkische Außenpolitikexperte Cengiz Candar fordert zusätzlich eine Einigung mit den Kurden in der Türkei und in Syrien. Bisher hatte Ankara Islamisten in Syrien gegen die dortigen Kurden unterstützt. Candar fragt, ob die Türkei wirklich mit einem zweiten Afghanistan vor der Haustür leben wolle. Wobei er ISIS als noch radikaler als die Taliban einstuft.