Vollwertkost und Sozialismus

»Schriftwechsel Dezember 1989«: Leserbriefe an das »Neue Deutschland«

Am 28. November 1989 setzte sich in Dortmund ein junger Mann an seinen Tisch und schrieb einen Brief. Der Brief sollte nach Berlin gehen. Nicht nach Berlin West, sondern nach Berlin, Hauptstadt der DDR. Der Absender wollte - keine drei Wochen nach der Öffnung der Mauer - der immer noch wichtigsten Zeitung der DDR ein Experiment vorschlagen. »Sehr geehrte Damen und Herren«, schrieb Bernd Riegert, der im siebenten Semester Journalistik und Geschichte an der Dortmunder Universität studierte, »nach der Wende ist vieles möglich, warum nicht auch folgendes: Ich möchte in der Redaktion des Neuen Deutschland ein Praktikum absolvieren.« Riegert hatte schon ein wenig Berufserfahrung; dazu gehörten ein Volontariat bei der Deutschen Welle in Köln sowie freiberufliche Mitarbeit bei verschiedenen Rundfunksendern in der Bundesrepublik.

»Die Arbeit der Medien in der DDR interessiert mich brennend«, begründete Riegert seine Bitte, »daher möchte ich die führende Zeitung der DDR in einem mindestens achtwöchigen Praktikum (so will es die Studienordnung) kennen lernen, von innen gewissermaßen.«

Bernd Riegert erhielt eine Absage. Natürlich, möchte man fast sagen. Die Zeitung hatte mit sich selbst zu tun, mit den täglich, ja stündlich über sie hereinbrechenden Veränderungen, mit den neuen Freiheiten und Unsicherheiten. Da hatte wohl einer von der anderen Seite gerade noch gefehlt, der sich ein »deutsch-deutsches Praktikum« wünschte und sogar von der Möglichkeit sprach, »Ihre Auszubildenden oder Studenten auch einmal zu einer Zeitung in Dortmund zu schicken«.

Die Antwort aus Berlin Anfang Dezember fiel knapp aus und sprach dennoch Bände. »Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass auf absehbare Zeit ein Praktikum bei uns nicht möglich ist«, schrieb ein Redakteur nach Dortmund zurück. »Ich bitte Sie, Verständnis dafür zu haben, dass wir in den nächsten Wochen und Monaten eine intensive Arbeit für die Erneuerung des politischen und gesellschaftlichen Systems in unserem Land zu verrichten haben. Mit freundlichen Grüßen ...«

Genau dieser Umbruch, diese Erneuerung interessierten den Studenten aus Dortmund, der den ostdeutschen Staat bis dahin nur flüchtig von ein paar Tagesbesuchen in Ostberlin kannte. Riegert ist heute 49 Jahre alt und berichtet für die Deutsche Welle aus Brüssel. Er wollte die Veränderungen in der DDR aus der Nähe beobachten; ein Praktikum beim »Neuen Deutschland« erschien ihm deshalb als »sehr cool«, wie er heute sagt. Gerade ist er in den USA unterwegs, antwortet aber bereitwillig auf die nd-Anfrage aus Berlin. »Ich wollte gern wissen, wie so eine Parteizeitung, so ein Zentralorgan funktioniert, das mir als Wessi völlig fremd war. Und ich war neugierig darauf, welche Diskussionen dort tobten, denn mir war klar, dass es viel Verunsicherung, aber auch Aufbruchstimmung geben müsste.«

Dass in der DDR nichts bleiben würde, wie es lange gewesen war, das war zu diesem Zeitpunkt längst klar. Man kann es noch heute an den Zeitungen von damals ablesen. An den tastenden, unsicheren Versuchen der ND-Redaktion, neue Fragen zu stellen, neue Antworten zu finden, den Mut zur eigenen Meinung und zum Streit zu entdecken. Die Wirklichkeit ohne ideologische Vorschriften zu beschreiben, mit den rasante Veränderungen fertig zu werden. Kritikfähigkeit zu entwickeln und dabei Charakter zu bewahren. »Was Ihre berechtigte Forderung nach Umwandlung der Parteipresse in ein echtes Forum der Information und des Meinungsstreits angeht«, heißt in einem Brief von damals an einen Leser, »so bemühen wir uns in der Redaktion gerade darum - sicher mit wechselndem Erfolg.«

Und man kann es an den Leserbriefen ablesen, die plötzlich in viel größerer Zahl und mit viel größerer Meinungsvielfalt auf den ND-Seiten erschienen. Die Brieflawine überrollte die Redaktion - kein Wunder in einer Zeit, in der sich buchstäblich für jeden Bürger des durchgerüttelten Landes Grundsätzliches änderte. Jeder der Briefschreiber hatte Dringliches mitzuteilen, es ging um existenzielle Fragen, die natürlich keinen Aufschub duldeten. »Derzeit«, erklärte ein konsternierter Redakteur damals einer ungeduldigen Leserin, »erreichen uns täglich rund 400 bis 500 Leserbriefe. Bei der Auswahl bemühen wir uns, inhaltlich das Meinungsspektrum in etwa abzudecken. Das wird aber leider nicht immer möglich sein. Es übersteigt ganz einfach die Kraft unserer bisherigen Strukturen - die beispielsweise noch im Frühjahr dieses Jahres von täglich vielleicht 20 Leserbriefen ausgingen.«

Viele dieser Briefe blieben notgedrungen ungedruckt; sie wurden gelesen, so oft es möglich war beantwortet, dann abgeheftet. Irgendwann war die Zeit darüber hinweg gegangen. Einer der vielen Ordner, in denen sie gesammelt wurden und in denen auch die ungewöhnliche Anfrage von Bernd Riegert landete, hat die Jahrzehnte seitdem überstanden. Er hat zwei Umzüge der gesamten ND-Mannschaft überlebt, Umstrukturierungen in der Redaktion, Personalveränderungen, wechselnde Zuständigkeiten für Leserbriefe und Archiv und platzsparende Entsorgungsaktionen. Jetzt, nach 25 Jahren, ist er ein spannendes Dokument jener Wendewochen; der nüchterne Vermerk »Schriftwechsel Dezember 1989« auf dem Rücken des Hefters ist eine ziemlich kühne Untertreibung. Denn in den hier gesammelten Briefen steckt vor allem eines: jede Menge Herzblut.

In jenen Wochen stand die DDR auf der Kippe - und mit ihr alles, was in diesem kleinen, immer mit seiner Selbstbehauptung beschäftigten Land etwas bedeutet hatte, im guten wie im schlechten Sinne. Ein Teil der SED-Führung um Erich Honecker war im Oktober abgelöst worden, die Nachfolger um Egon Krenz traten ein paar Wochen später ebenfalls zurück. Auf einem Sonderparteitag kämpfte die SED ums Überleben und um einen Neubeginn. Die Westgrenze war offen. Am Runden Tisch verhandelten die etablierten Parteien mit der Opposition über die Macht im Lande. Die politische Klasse Westdeutschlands machte schon ihren Einfluss geltend, in vielen Betrieben ging es drüber und drunter.

Diese aufgewühlte Stimmung spiegelte sich in den Briefen wieder. Nach jahrzehntelanger zentralistisch dirigierter Meinungsbildung waren alle Schleusen geöffnet. Und es waren ja längst nicht nur Briefe, die die Redaktion erreichten. Es waren Aufrufe, Stimmungsberichte, Klagen, Resolutionen, Kritiken, Konzepte, Gesetzentwürfe, Artikel, offene Briefe, Pamphlete. Jeder Zweite wollte auf seine Weise die Welt retten. Oder wenigstens die DDR. Zumindest aber die Partei. Ein Appell »gegen die Zunahme undemokratischer Auswüchse« trug die überschwängliche Unterschrift »Alle demokratischen Kräfte unseres Landes«.

Ans ND schrieben Genossen und Nichtgenossen, Wütende und Ängstliche, langjährige ND-Leser und Leute, die die Zeitung nicht anfassen wollten, Erschrockene und Ermutigte, Fragende und Bescheidwisser, Enttäuschte und Hoffnungsvolle. »Früher«, hieß es in manchen Briefen etwa, »fragte ich mich gelegentlich, warum ich das ND überhaupt noch abonniere.« Oder: »Bei Ihnen hat sich gegenüber früher offenbar nichts geändert.« Früher, das war gerade erst ein paar Wochen her.

In einigen Briefen wurden dramatische Schicksale von Menschen geschildert, die in der DDR aus politischen Gründen drangsaliert und benachteiligt worden waren. Forderungen nach Rehabilitierung oder Amnestierung wurden laut. Schauspieler verlangten, dass der Dramatiker Rainer Kerndl, der 1984 wegen eines unliebsamen Theaterstücks abserviert worden war, im ND wieder Rezensionen schreiben dürfe. Ein Leser entdeckte erschüttert in einem der nun einsetzenden Berichte über den Stalinschen Terror gegen Kommunisten den Namen seines Großvaters - der war nach Meinung des Enkels irgendwann in den 30er Jahren in der Sowjetunion gestorben; nun stellte sich heraus, dass man den Großvater als Verräter hingerichtet hatte.

Jemand forderte, den Oppositionsgruppen vom Runden Tisch regelmäßig Zeitungsseiten zur eigenständigen Gestaltung zu überlassen und dafür »unpolitische Inhalte und auch die Sportberichterstattung zu begrenzen«. Ein anderer legte eine »evolutionstheoretisch abgesicherte Perspektive für einen energiegesteuert-kreativen Weg in eine machtsystemfreie Gesellschaft« vor. Die Zeitung der italienischen Kommunisten teilte mit, dass sie ihre Pressefeste aus finanziellen Gründen nicht mehr im bisherigen Umfang weiterführen könne.

Ein Hamburger schlug gegenseitige Ost-West-Familienbesuche vor und hatte auch gleich ein Motto parat: »Gastlichkeit jenseits aller Peinlichkeit«. Ein Londoner fragte nach, ob sich das ND seiner Umfrage »Droht der deutsche Einheitsstaat?« annehmen wolle. Ein Westberliner propagierte eine allgemeine Umstellung der Ernährung auf Vollwertkost, denn dies sei die Voraussetzung für die Unabhängigkeit von Alltagsdrogen wie Koffein, Nikotin, Kaffee und Süßigkeiten, »die derzeit noch ganz wesentlich Konsumverhalten und Reiselust der DDR-Bürger beeinflussen«.

Ein Leser regte eine regelmäßige Seite »für Westberlin und die BRD« an; die Redaktion antwortete, sie habe schon Mühe, »die ganze Vielfalt der gesellschaftlichen Entwicklung in unserem Land in unserer täglichen achtseitigen Ausgabe widerzuspiegeln«. Und die Parteigruppe Wasserkessel aus dem VEB Aluminiumwarenfabrik Fischbach erhielt auf ihr langes Schreiben voller Sorgen und Fragen eine Antwort, in der ein Satz steht, der sich ähnlich in vielen Antwortbriefen aus der Redaktion findet: »Lasst uns nun gemeinsam alles tun, um die Partei zu retten und sie grundlegend zu erneuern.«

Die Leser gierten geradezu nach Originalton. Sie wollten nicht nur journalistische Zusammenfassungen, sondern möglichst viele Dokumente Debatten, Untersuchungsberichte. Und zwar im Wortlaut: »Ich sehe auch in Weglassungen eine Form der Zensur, dieser Zustand sollte aber doch inzwischen überwunden sein!«, forderte einer. Das musste die Zeitung glatt überfordern. Zumal nun, mit dem Zusammenbruch der Planwirtschaft und dem absehbaren Ende staatlicher Subventionen, auch Medienverlage sehen mussten, wie sie sich ökonomisch behaupten. Anzeigen tauchten auf, von Firmen aus Ost und West, und sorgten für heiße Debatten.

Als Mitte Dezember Lufthansa und Interflug, die beiden Fluggesellschaften aus West und Ost, gemeinsam großflächig inserierten, schlug die Erregung hohe Wellen. »Mit höchstem Befremden« nahm ein Leser diese Anzeige zur Kenntnis und stufte deren Abdruck als »verantwortungs- und niveaulos« ein. Denn: »Von unseren Werktätigen können sich sicher nur wenige eine solche Flugreise leisten. Sie erzeugen einen DM-Hunger, der dem Bewusstsein unserer Bevölkerung sicherlich nur abträglich sein kann. Alles schaut nur noch in die Schaufenster des KaDeWe.«

Und ein anderer schlug vor, solche Anzeigen mit einem redaktionellen Zusatz gewissermaßen zu entschuldigen: »Dies ist eine Anzeige, deren DM-Gegenwert für den Import von Druckpapier Verwendung findet.« Die Redaktion erklärte zu solchen Vorwürfen, man werde »im Rahmen der Eigenerwirtschaftung der Mittel« künftig »auch Anzeigen von Valuta-Kunden berücksichtigen müssen«.

Das »Neue Deutschland« begann in jenen Wochen, alleine zu laufen. Ohne Anleitung und Bevormundung, trotz spürbar werdender Anfeindungen. Die Mitarbeiter suchten nach einem neuen Selbstverständnis für eine linke Zeitung, nach einem neuen, streitbaren Umgang mit Lesern, Politikern und den Menschen, über die zu schreiben war. Als eine Reporterin über die Arbeit und die schwierigen Zustände in einem Berliner Krankenhaus berichtete, beschwerte sich der Klinikdirektor über die seiner Meinung nach tendenziöse, negative Darstellung. »Meiner Meinung nach werden wir nie mehr wie in der Vergangenheit auf einhellige Auffassungen stoßen«, antwortete ihm die Reporterin. »Auch meine Zeitung ist krank gewesen. Auch wir Journalisten müssen lernen, ebenso wie unsere Leser. Wenn ich Ihnen schreibe, dass wir früher vor allem Partei- und staatliche Leitung bei der Recherche konsultierten, ist das sicher für Sie nicht neu. Widersprüche gab es da nicht. Wir haben ›sicherer‹ gelebt. Aber bewirkt haben wir nichts.«

Bernd Riegert aus Dortmund wollte diese - wie er offensichtlich und zu Recht vermutete - spannenden Veränderungen aus nächster Nähe erleben. Er hatte durchaus ernsthaft auf eine Zusage gehofft, erinnert er sich, obwohl seine Kommilitonen damals gleich abwinkten und er selbst heute meint, »dass ich wahrscheinlich naive Vorstellungen von der Zeitung hatte«. Seine Ostdeutschland-Erfahrungen konnte er bald nachholen: »Während meiner ersten Berufsjahre 1990 bis 1993 habe ich viel über den Einigungsprozess berichtet und oft die neuen Bundesländer bereist.« Er beschäftigte sich mit der Wirtschafts- und Währungsunion, beobachtete die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl Ende 1990, besuchte Parteitage, interviewte Joachim Gauck, Gregor Gysi, Bärbel Bohley und andere.

Im Dezember 1989 war Riegert mit seinem Praktikumswunsch seiner Zeit voraus, wenn auch nur ein halbes Jahr - aber was hat sich in diesem halben Jahr verändert. Alles. Im Sommer 1990 war klar, dass es die DDR nicht mehr lange geben würde, dass die Vorherrschaft der SED gebrochen war, dass das »Neue Deutschland« sich in der Marktwirtschaft würde behaupten und in einem wie auch immer vereinten Deutschland seinen Platz würde suchen müssen. Und im Sommer 1990 kam tatsächlich der erste Redaktionspraktikant aus der Bundesrepublik, ein junger linker Kölner, in das Haus am Berliner Franz-Mehring-Platz. Ihm folgten viele weitere. Heute ist die nd-Redaktion längst bunt gemischt. Natürlich.

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