Altes Gesicht, junges Gehirn

Wissenschaftler werfen neues Licht auf die frühe Entwicklungsgeschichte des Neandertalers

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Unter den nächsten Verwandten des Homo sapiens ist er längst zu einem Mythos geworden: der Neandertaler, der vor etwa 130 000 Jahren die Bühne der Evolution betrat und vor rund 30 000 Jahren in vergleichsweise kurzer Zeit ausstarb. Lange hielt man die vor allem in Europa und Vorderasien lebenden Urmenschen für tumbe, keulenschwingende Barbaren, die in Geist und Kultur dem modernen Menschen weit unterlegen waren. Ganz im Sinne dieses »Paläo-Rassismus« sprach der britische Historiker H.G. Wells noch 1921 vom »grausigen Volk« der Neandertaler und beschrieb die Äußerlichkeiten jenes Menschentyps in wenig schmeichelhaften Worten: »… niedrige Stirn, überhängende Augenbrauen, Affenhals und kleine Körperstatur, starke Behaarung, eine gewisse Hässlichkeit oder abstoßende Fremdartigkeit in seiner Erscheinung«.

Erst als die paläontologischen Funde sich häuften, wurde offenbar, dass der Mensch wenig Anlass hat, sich in gleichsam rassistischer Weise über seine urtümlichen Vettern zu erheben. Denn wie die anatomisch modernen Menschen waren auch die Neandertaler in erster Linie Kulturwesen. Sie konnten aller Wahrscheinlichkeit nach sprechen, stellten Werkzeuge her, kümmerten sich um Kranke und führten rituelle Bestattungen durch. Darüber hinaus besaßen sie ein größeres Gehirnvolumen als der Jetztmensch. Manche Biologen machten aus dem Neandertaler deshalb eine Unterart des Homo sapiens, der sie die Bezeichnung »Homo sapiens neanderthalensis« gaben, während sie den modernen Menschen »Homo sapiens sapiens« nannten. Dem wiederum lag die Annahme zugrunde, dass der evolutionäre Übergang vom Neandertaler zum modernen Menschen graduell, sprich kontinuierlich erfolgt sei.

Inzwischen gehen die meisten Wissenschaftler wieder von zwei Menschenarten aus, als deren gemeinsamer Vorfahr der aus Afrika stammende Homo erectus gilt. Vieles deutet überdies darauf hin, dass der untersetzte und muskulöse Körperbau der in Europa lebenden Neandertaler eine Anpassung an das dort herrschende kalte Klima darstellte. Erst als die klimatischen Verhältnisse vor rund 40 000 Jahren in Europa instabiler wurden, bot sich dem physisch weniger stark spezialisierten Homo sapiens die Chance, in das nördliche Verbreitungsgebiet des Neandertalers vorzudringen. Doch trotz aller Unterschiede in der Anpassung lagen die Körpermaße beider Menschenarten noch innerhalb der Variationsbreite heutiger Menschen. Der britische Historiker Ronald Wright bemerkte dazu lakonisch: »Seite an Seite könnten die Skelette von Arnold Schwarzenegger und Woody Allen einen ähnlichen Kontrast bieten.«

Beim Schädel liegen die Verhältnisse anders. »Wenn uns heute ein Neandertaler begegnen würde, würden wir sein Gesicht als fremd erkennen,« sagt Jean-Jacques Hublin vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Denn die Neandertaler hatten eine große fleischige Nase, starke Überaugenwülste und einen massigen Kiefer. Beim Versuch, den Nutzen und die Herkunft dieser Merkmale zu erklären, blieb eine Frage bisher offen, die Frage nämlich, ob der Prozess der »Neandertalisierung« des Menschen von Anfang an den gesamten Schädel betraf, oder ob dessen Teile sich in mehreren Etappen und zu verschiedenen Zeiten entwickelten.

Wie so oft in der Geschichte der Paläoanthropologie waren es letztlich ein paar fossile Knochen, die der theoretischen Debatte die Richtung wiesen. Die Fossilien stammen allesamt aus der nordspanischen Ausgrabungsstätte »Sima de los Huesos«, auf Deutsch »Knochengrube«, in der Wissenschaftler seit 30 Jahren nach Überresten von Früh- und Urmenschen suchen. Aus den bislang hier entdeckten rund 6500 Knochenstücken konnten 17 Schädel rekonstruiert werden, einige davon nahezu vollständig. »Diese Anhäufung von homininen Fossilien ist einzigartig«, sagt Juan-Luis Arsuaga von der Universität Complutense in Madrid, der mit seinen Kollegen sieben dieser Schädel genau vermessen und dabei festgestellt hat: Die urzeitlichen Menschen, die laut Datierung vor rund 430 000 Jahren in der Nähe der »Knochengrube« lebten, besaßen Merkmale, die man sowohl dem Neandertaler als auch früheren Menschenformen zuordnen kann. Das heißt: Während die Zähne und das Gesicht bereits der Morphologie des Neandertalers ähnelten, war die Hirnschale noch relativ wenig entwickelt. (»Science«, DOI: 10.1126/ science.1253958)

An den Schädeln der Neandertalervorfahren fallen besonders die Veränderungen in jenen Bereichen auf, die mit dem Kauen in Verbindung stehen. Starke Gebrauchsspuren zeigen namentlich die Schneidezähne, die so aussehen, als seien sie wie eine Art dritte Hand benutzt worden. Beides deute darauf hin, sagt Arsuaga, dass der Ursprung des Neandertalers mit der Spezialisierung des Kauapparates zusammenfalle.

Aufgrund der unterschiedlichen Schädelmerkmale ist es schwierig, die einst in Nordspanien beheimateten Urzeitmenschen einer bestimmten Art zuzuordnen. Dem »Neandertaler-Clan« hätten sie wohl angehört, aber ob sie direkte Vorfahren des Homo neanderthalensis gewesen seien, müsse offen bleiben, schreiben die Forscher. Vermutlich habe es zu jener Zeit mehrere Linien von Urmenschen gegeben, die nebeneinander existierten.

Im Südwesten Europas, wo die hier erzählte Entwicklungsgeschichte der Neandertaler begann, endete sie vermutlich auch. Denn ihre letzte europäische Zufluchtsstätte fanden die Neandertaler in Spanien. Lange wurde gemutmaßt, dass die modernen Menschen ihre urtümlichen Verwandten in einem frühen Genozid vernichtet hätten. Die vorhandenen Belege stützen diese These jedoch nicht. Auch das Klima dürfte für den Homo sapiens nur bedingt von Vorteil gewesen sein. »Am wahrscheinlichsten scheint die Theorie des Neandertalers als Fortpflanzungsmuffel«, sagt der deutsche Paläoanthropologe Friedemann Schrenk. Angenommen, die Fortpflanzungsrate des Homo sapiens hätte nur um wenige Prozent über der des Neandertalers gelegen. In diesem Fall wäre tatsächlich ein Szenario denkbar, bei dem der moderne Mensch den Neandertaler schon nach einigen Jahrtausenden aus dem gleichen Lebensraum verdrängt hätte. Aber auch eine höhere Kindersterblichkeit bei den Neandertalern würde eine solche Entwicklung erklären.

Angesichts so vieler Konjunktive vertreten manche Forscher die Auffassung, dass die modernen Menschen einfach ein größeres Nahrungsspektrum nutzten als die Neandertaler und sich besser vor den Unbilden der Witterung schützten. Vielleicht haben alle ein bisschen Recht, und es waren gleich mehrere genetische und ökologische Faktoren, die das evolutionäre Schicksal des Neandertalers besiegelten.

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