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Politik war sein Schicksal

Die Erinnerungen des Völkerrechtlers Gregor Schirmer

  • Hermann Klenner
  • Lesedauer: 4 Min.

In einem seiner Gedächtnisprotokolle hat der Klassiker unter den Dichtern deutscher Zunge des Kaisers Napoleon Diktum überliefert: »Die Politik ist das Schicksal.« So zu lesen im Band 16 der DDR-Ausgabe von Goethes Werken. Das muss dennoch nicht stimmen; aber im Falle von Gregor Schirmer, Jahrgang 1932, ist viel Wahres dran: Sein Geschick, in der Wahrheit seiner fünf Sinne und dennoch als »Parteisoldat« zu leben - »es war für mich selbstverständlich, dass ein Kommunist seine Arbeit dort zu leisten hat, wo ihn die Partei hinschickt« -, ist ohne sein Schicksal nicht zu verstehen.

Der arge Weg der Erkenntnis von Gregor Schirmer sei in Stichworten gekennzeichnet: Sein Vater ein Arbeiter, seit 1924 gemeinsam mit seiner Frau organisierter Kommunist (Thälmann gehörte einmal zu ihren Gästen) und gewählter ehrenamtlicher Stadtrat in Nürnberg, von den Nazis mehrjährig ins Gefängnis und KZ gesperrt; nach dem Krieg Betriebsratsvorsitzender und als KPD-Vorsitzender Bayerns Abgeordneter der bayerischen Verfassungsgebenden Landesversammlung; im Ergebnis des grundgesetzwidrigen KPD-Verbots wurde ihm 1956 wie 1933 das Nürnberger Stadtratsmandat entzogen; bis zur Bildung der von ihm mitbegründeten legalen DKP war er Mitglied des ZK der illegalen KPD. Sein Sohn Gregor trat mit 17 in die (noch legale) KPD ein. Am Anfang seines Erkenntnisweges stand eine folgenreiche Erfahrung: Als Organisator einer Friedenskundgebung in Fürth (»Butter statt Kanonen - Mehr Lohn statt Divisionen«) wurde Gregor Schirmer im Oktober 1950 verhaftet, viele Stunden von Geheimdienstleuten der US-Besatzungstruppen verhört, die ihn zu ihrem Agenten zu machen versuchten - vergeblich. Dem angekündigten Strafprozess entzog er sich durch Republikflucht von West nach Ost. In der DDR studierte er an der Juristenfakultät in Leipzig, womit auch seine Laufbahn als Funktionär begann: Parteisekretär an der juristischen Fakultät, Promotion, Sekretär der Berliner Universitätsparteileitung, Habilitation, Völkerrechtsprofessor, Prorektor der Jenenser Universität, Stellvertreter des Ministers für Hoch- und Fachschulwesen, Stellvertretender Leiter der Abteilung Wissenschaft des ZK der SED, Abgeordneter der Volkskammer der DDR für mehr als 25 Jahre, Mitglied des Präsidiums des Kulturbundes der DDR. Am 8. November 1989 schließlich beantwortete er die Anfrage von Egon Krenz, ob er bereit sei, die Leitung der zu bildenden Politbüro-Kommission für Wissenschaft und Bildung zu übernehmen, nach einer eintägigen Bedenkzeit mit »Ja, ich bin dazu bereit« - was er nun zum Titel seiner Rückblende werden ließ.

Gestützt auf seine erstaunlich reichhaltigen Aufzeichnungen, ergänzt durch Auswertung bereits erschienener Literatur und gelegentlicher Benutzung des Bundesarchivs, bietet Schirmer Detaileinblicke in weitgehend Unbekanntes aus der Polit- und Wissenschaftsgeschichte der DDR, besonders aus der Sicht der im weiteren Sinn Regierenden. Deren mit guten Vorsätzen gepflastertes tatsächliches Tun, aber auch Widersprüche, Querelen sowie Leerläufe werden so wenig ausgeblendet wie die »Überlagerung« der Staatstätigkeiten durch die Führungsrolle der SED. Über die Realstrukturen wie über die Triebkräfte innerhalb der Gesellschafts-, speziell der Rechtswissenschaft sowie deren Akteure gibt es in der Erinnerungsliteratur Vergleichbares nicht.

Es entsteht aber auch das Bild seiner Persönlichkeit, von der Schirmer mehr preisgibt, als die meisten zeitgenössischen Autobiografen ihrerseits preiszugeben bereit sind. Schirmer ist ein glaubwürdiger Autor. Um keines seiner Ämter und Funktionen hat er sich beworben. Und nun scheut er nicht davor zurück, seine, wie er meint, größte politische Fehlkalkulation offenzulegen. Er berichtet von einem Vorgang, bei dem er »zu seiner Schande« den Mund gehalten habe; er schiebt die Verantwortung für seinen scharfmacherischen »ND«-Artikel von 1958 nicht auf andere, leugnet seine Teilnahme an einem »schlimmen Kesseltreiben« gegen angebliche Abweichler nicht. Er hat sich später entschuldigt, was alle Betroffenen als ehrlich gemeint annahmen.

Die epochale Niederlage des Sozialismus in Europa ist für Schirmer kein Grund, sich zu wenden. Lieber mit den Kommunisten vorübergehend geirrt zu haben, als kurzzeitig recht zu behalten mit den Kapitalisten. Auch wenn der Kommunismus nicht auf der Tagesordnung heutiger Kämpfe stehe, bleibt für ihn das auf der Grundlage des Gemeineigentums selbstbestimmte, weltweit friedliche, freie Miteinander aller Menschen als Gleiche unter Gleichen ein im Einklang mit der Natur stehender überzeitlicher Wert, eine Utopie im bestmöglichen Sinn dieses Wortes. Die Ursachen für das Scheitern des im 20. Jahrhundert revolutionär begonnenen und noch im selben Jahrhundert konterrevolutionär implodierten Frühsozialismus in Europa zu analysieren, war nicht das Thema dieses Buches, auch wenn dazu immer wieder Hinweise gegeben werden. Wer immer aber sich solch eine Analyse auflädt, tut gut daran, wenn er sich Schirmers reiche Erfahrungen und Gedanken nicht entgehen lässt.

Bereit sein ist alles, heißt es im »Hamlet«. Schirmer war bereit. Ganz gewiss nicht für alles. Wohl aber für einen Weg, der aus dem Kapitalismus hinauszuführen versprach.

Gregor Schirmer: »Ja, ich bin dazu bereit.« Eine Rückblende. Verlag am Park, Berlin 2014. 432 S., br., 22,99 €.

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