Mit den Wäldern sterben die Sprachen

Der Verlust der globalen Biodiversität bedroht inzwischen weltweit jede vierte

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Verlust von Sprachen, so britische Wissenschaftler, ist verbunden mit einem Verlust menschlicher Kultur. Die Veränderung von Lebensumständen trägt dazu bei.

Wer wissen will, wie viele Sprachen es weltweit gibt, muss sich auf unterschiedliche Antworten gefasst machen. Das hängt mit unterschiedlichen Zählweisen, mit unvollständiger Identifizierung aller gesprochenen Sprachen, aber bisweilen auch strittigen Definitionen zu Sprachen und Dialekten zusammen. Gemeinhin wird heute von rund 6500 bis 7000 Sprachen ausgegangen, die in ihrer übergroßen Mehrheit – die Rede ist von 99,5 Prozent – zu einer von 25 Sprachfamilien mit mindestens einer Million Anwender gehören. Darüber hinaus gibt es jedoch etwa 175 Sprachfamilien bzw. isolierte Sprachen mit weit geringerer Zahl von Sprechern.

Allein für Neuguinea in der Südsee nimmt man bis zu 1000 Sprachen an – die mutmaßlich höchste Sprachendichte überhaupt. Noch. Nach einer neuen Untersuchung der Forscher Jonathan Loh von der Zoological Society of London und David Harmon von der George Wright Society, über die die älteste britische Sonntagszeitung »The Observer« (gegründet 1791) berichtete, verschwinden mit Beseitigung natürlicher Lebensräume – vor allem durch forcierte, von Profitgier angetriebene Entwaldung – immer mehr Sprachen. »Für jede vierte der rund 7000 auf der Welt gesprochenen Sprachen besteht im Gefolge wachsender Bedrohung der Biodiversität die Gefahr, dass sie für immer verstummt«, so der »Observer«.

Die Forscher haben enge Zusammenhänge zwischen den Veränderungen der Lebensumwelt, zu denen das Aussterben von Tieren und Pflanzen zähle, und dem Verschwinden lokaler Sprachen ermittelt, die sich historisch unter den Bedingungen der Abgeschiedenheit entwickelt hatten. Die Zeitung zitiert einen Bewohner Neuguineas – nach Grönland die zweitgrößte Insel der Erde, deren Westteil 1963 von Indonesien besetzt wurde und deren Osthälfte seit 1975 Teil des unabhängigen Staates Papua-Neuguinea ist: »Die Wälder werden abgeholzt. Viele Sprachen gehen verloren. Wanderarbeiter kommen und Einheimische ziehen auf der Suche nach Arbeit ins Tiefland und in die Städte. Die indonesische Regierung untersagt uns, in den Schulen unsere Sprachen zu pflegen.«

Solche Entwicklungen führen nach Erkenntnissen der Forscher Loh und Harmon zu einem steilen Niedergang von natürlichem Habitat und Sprachen, wobei sich beide spiegelten. Die Sprachenvielfalt gehe ebenso rasch und drastisch zurück wie die biologische Vielfalt – »um rund 30 Prozent seit 1970«, so die beiden Autoren. In den betreffenden Regionen seien in dem genannten Zeitraum etwa 21 Prozent aller Säugetiere, 13 Prozent der Vögel, 15 Prozent der Reptilien und 30 Prozent der wasserbewohnenden Wirbeltiere vom Verschwinden bedroht gewesen, während in derselben Periode vermutlich rund 400 Sprachen verloren gingen.

Und die Spirale dreht sich weiter nach unten: Nach Zählungen des Sprachforschers Asya Pereltsvaig würden die Sprachen Bo gegenwärtig nur noch von 85, Ak von 75 und Karawa von 63 Menschen gesprochen. Likum und Hoia Hoia zählten jeweils etwa 80 Anwender, Abom nur noch 15. Guramalum wies bei der vorläufig jüngsten Zählung lediglich noch drei Personen auf, die es beherrschten, während Lua inzwischen komplett verschwunden sein dürfte – bei einer Zählung im Jahr 2000 konnte lediglich ein Sprecher noch ermittelt werden. Jonathan Loh resümiert: »Der Verlust menschlicher Kultur, denn darum handelt es sich hierbei, ist erschreckend.« Ironie am Rande: Lua heißt heute eine erfolgreiche Computer-Programmiersprache.

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