Die Waffen der Bourgeosie

Karl-Eckard Carius und Viriato Soromenho-Marques bieten Mauerbilder - der portugiesischen Nelkenrevolution

  • Jens Grandt
  • Lesedauer: 5 Min.

Fluch und Segen: Das Vergessen, Verdrängen, Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen. Abwehr, die im Gedöns politischer Inanspruchnahme Individualität erhält und - vernichtet. Weil Besinnlichkeit, die stets Besinnung ist auf »etwas«, zu Tode kommt.

Vor ein paar Wochen, im April, gedachten wir des Sturzes der ältesten Diktatur Europas, der Nelkenrevolution in Portugal. Ein Tagesthema der alternativen Presse, randständig in bürgerlichen Medien. Obwohl die Revolte von jungen Offizieren, die, aus niederen Verhältnissen kommend, während des Kolonialkrieges befördert worden waren, sich zu einem mächtigen Volksaufstand weitete. Das Auf und Ab der Kräftephalanx hielt das Land zwei Jahre lang in Atem, vom 25. April 1974 bis zum Sommer 1976. Ein flammendes Fanal, das in Griechenland und Spanien vernommen wurde, wo bald darauf die Militärkamarillen davongejagt wurden. Ein Impuls auch für die Demokratiebewegung in Europa.

Diesem singulären Ereignis ist eine reich illustrierte Publikation gewidmet; sie ist zugleich in Portugiesisch bei Esfera do Caos Editores erschienen: »Mauern der Freiheit«. Ein paradoxer Titel. Begrenzen nicht gerade (und krumme) Mauern alle Freiheit? Ja. Und doch wieder nicht, wenn sie »gemalte Träume« in die Straßen senden. Die Idee des Buches verdankt sich einer Fotoserie revolutionärer Wandbilder, die der Professor für Kultur und Designe Karl-Eckhard Carius während eines Lehraufenthalts in Lissabon aufgenommen hat. Fotos von Ferdinand Joesten und eine Dokumentation von Alfred Kottek aus den Jahren 1976/77 ergänzen das beeindruckende Bildmaterial. Aber es ist keine allein historische Bestandsaufnahme. Das Vergessen - »und der Aufschrei heute« heißt es im Untertitel. Die mit kämpferischem Furor auf die Wände gemalten Bilder, die Nelkenrevolution selbst werden zu Anlass genommen, über brennende Probleme der Gegenwart nachzudenken und Formen des aktuellen Protestes zu diskutieren.

Den Herausgebern ist es gelungen, einen Kreis portugiesischer und deutscher Intellektueller um sich zu scharen, die dem alles in allem diffusen Aufbruch und letztlich der Niederlage starken Ausdruck verleihen. So hat auch die Komposition des Buches etwas durchaus Fragmentarisches. Das entspricht den Gegebenheiten, unter denen die »geknebelte Generation« ihre Fesseln sprengte, wie die durch bedeutende Romane bekannt gewordene Schriftstellerin Lidia Jorge schreibt. Vor den Mauerbildern auf dem Campus der Technischen Hochschule kann sie sagen. »Ich habe es erlebt ... Tage, als man die Revolution für eine Arbeiterrevolution, die Wende für endgültig, die Überzeugung, man könne Massen organisieren, für allgemeingültig hielt.«

Der Philosoph und Umweltaktivist Variato Soromenho-Marqus setzt bei einem Gang durch heutige Städte an. Er sieht die in die Straßen geschriebenen, gezeichneten Proteste als Ausdruck einer umfassenden europäischen Krise. »Schreie der Verzweiflung«, Zeichen einer perspektivlosen Revolte. »An den Wänden des heutigen Europas kommt die Zukunft nicht mehr vor.« Das Schlimmste an der europäischen Krankheit sei das den Bürgern auferlegte Schweigen. (Dem nur eine Minderheit zu widerstehen sucht).

In der Außensicht auf Deutschland ist es die Austeritätspolitik der Bundeskanzlerin Merkel, die fast 500 Millionen Seelen zu Gefangenen im Wirtschafts- und Finanzkrieg der Banken macht. Überraschend deutlich kritisiert Marío Soares, langjähriger Ministerpräsident, im Vorwort die Europäische Union, deren dominante Staaten statt mit Solidarität »mit Feindschaft auf die Schwierigkeiten der von der Finanzkrise betroffenen Länder« reagiert haben. Und er fragt sich, wie »an die Stelle des Traums von einem europäischen Deutschland ... die augenblickliche Politik der deutschen Regierung« treten konnte.

Das alles klingt nicht sehr zuversichtlich. In Sahra Wagenknechts Beitrag schwingt dann auch die Melancholie des Fado mit, des populären portugiesischen Liedguts der Sehnsucht und der unglücklichen Liebe. Ein widerständiger Rhythmus, der bei ihr in eine geraffte Analyse der Staatsschuldenkrise mündet. Die »Gewehre der Diktatur« befinden sich heute in den Händen der Finanzmärkte, sagt Wagenknecht. Was die unausgesprochene Schlussfolgerung nahelegt, die Waffen der Bourgeosie nicht als alltagsfremdes Arsenal zu ignorieren, sondern ihre Funktionsweise zu studieren.

Der Amoralität des Kapitalismus zu widerstehen, sie durch Argumentation und provokante Aktion deutlich zu machen, darum geht es allemal. Eva Berendsen betrachtet in »Ästhetik der Krise« neue Formen des Aufbegehrens: Blockaden gegen Nazis, Occupy-Bewegung, Femen und andere femenistische Unbotmäßigkeiten. Die Germanistin und Schiller-Übersetzerin Teresa Salema bedauert dern Verlust an Leidenschaft. Trägheit: Der innere Feind heutigen linken Sympathisantentums. Wie selbst die Kapitalismuskritik vermarktet wird, zeigt der Kolumnist Daniel Oliveira: Das berühmte Werk »Sklavenarbeit« des englischen Street-Art-Künstlers Bansky wurde aus dem Beton gebrochen und sollte auf einer Auktion verkauft werden. Der Protest der Bürger hat das verhindert.

Einem geistiges Experiment unterzieht sich Frieder Otto Wolf: Er nimmt sich seine 1977 geschriebenen Thesen über die historischen Erfahrungen der Nelkenrevolution vor, um sie - Wort für Wort - zu prüfen. Höchst lesenswert und amüsant. Wie in keiner anderen deutschen Schrift werden die Differenzen unterschiedlicher Gruppierungen deutlich (Wolf war zwei Jahre Professor in Portugal), die ein einheitliches Handeln verhindert haben. Weshalb die kompakte Strategie und Taktik des internationalen Kapitals den Akteuren die Volksmacht wieder aus den Händen schlagen konnten.

Zur Buchpremiere in der Landesvertretung Niedersachsens in Berlin kaprizierte sich der Außenpolitische Sprecher Niels Annen auf die Beihilfe der SPD zum Epochenwechsel am Tejo. Soares‘ sozialdemokratisch orientierte Sozialistische Partei ist in einem Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung gegründet und »klandestin« (Originalton) unterstützt worden. Dass damit die Wende von der Revolution zu systemimmanenten Reformen eingeleitet und der Boden für die neoliberale Krise bereitet wurde, stand außer Betracht.

Karl-Eckard Carius/Viriato Soromenho-Marques (Hg.): Mauern der Freiheit. Lissabons vergessene Bilder und der Aufschrei heute. Westfälisches Dampfboot, Münster 2014. 172 S., br., 27,90 €.

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