Stunden voll Trauer und Schmerz

Broschüre informiert über Abschiebehaft in Sachsen - Freistaat agiert besonders rigoros

  • Hendrik Lasch, Dresden
  • Lesedauer: 3 Min.
232 Flüchtlinge wurden 2013 allein in Sachsen in Abschiebehaft genommen. Zwei Gerichtsurteile stellen das Instrument deutlich in Frage. Eine sächsische Initiative plädiert für dessen Abschaffung.

Als Herr Rafiq nach Deutschland kam, hoffte er, Angst und Elend hinter sich zu haben. Der Familienvater aus Syrien war mit seiner Frau und vier Kindern vor dem Bürgerkrieg geflohen, hatte in der Türkei und in Bulgarien »viel Leid ertragen« und vertraute auf bessere Zeiten. Er landete indes in einer drei Quadratmeter großen Zelle der Justizvollzugsanstalt (JVA) Dresden. Die Behörden hatten ihn in Abschiebehaft genommen, weil er schon im EU-Land Bulgarien Asyl beantragt hatte und nach geltendem Recht in Deutschland nicht zu einem erneuten Antrag berechtigt war. »Ich war auf der Flucht vor einem großen Gefängnis in Syrien«, schreibt Rafiq, »um dann in einem kleinen Gefängnis in Dresden zu sitzen.« Er sorgte sich um die Familie und erwog sogar Suizid: »Trauer und Schmerz«, sagt er, »waren die Gesellen dieser Stunden.«

Die Erinnerungen von Herrn Rafiq finden sich in einer Broschüre, mit der Sachsens Flüchtlingsrat und eine Abschiebehaft-Kontaktgruppe aus Dresden über das in der Öffentlichkeit wenig bekannte Phänomen Abschiebehaft informieren wollen. »Viele Bürger meinen, wer in Haft sitzt, muss etwas ausgefressen haben«, sagt Albrecht Engelmann, Ausländerbeauftragter in der Evangelischen Landeskirche Sachsen. Dem sei nicht so. Die Flüchtlinge hätten sich im Gestrüpp europäischer Asylgesetze verfangen: »Es ist nicht einzusehen, dass jemand, der nichts verbrochen hat, seiner Freiheit beraubt wird.«

Die Broschüre schildert das Phänomen aus mehreren Perspektiven: Betroffene und Angehörige kommen ebenso zu Wort wie Leiter und Mitarbeiter der Haftanstalten. »Für die einen ist es eine biografische Ausnahmesituation, für die anderen alltägliche Lohnarbeit«, sagt Lisa Janotta von der Kontaktgruppe. Deren Angaben zufolge wurden 2013 allein in Sachsen 232 Menschen in Abschiebehaft genommen; 2008 waren es sogar 519 Migranten, die bis zu sechs Monaten in einer JVA verbringen mussten - zunächst in einer Zelle gemeinsam mit Strafgefangenen. Handys waren verboten, Kontakt zu Verwandten gab es faktisch nicht. »Selbst Dolmetscher fehlten«, sagt Annegret Krellner von der Kontaktgruppe: »Darum haben wir uns gekümmert.« Die ehrenamtliche Initiative, die zweimal mit dem sächsischen Förderpreis für Demokratie geehrt wurde, besuchte seit 2002 die Inhaftierten, gab psychologische und materielle Hilfe und vermittelte Kontakte zu Anwälten. Schätzungen zufolge verstößt die Haft in der Hälfte der Fälle gegen geltendes Recht.

Zuletzt veränderten zwei Urteile gravierend die Rahmenbedingungen. Der Europäische Gerichtshof bekräftigte im Juli das Trennungsgebot von Abschiebehäftlingen und Strafgefangenen. Sachsen schickt aufgrund der Regelung hier inhaftierte Migranten bereits seit Ende 2013 in spezielle Abschiebegefängnisse nach Berlin-Köpenick und Eisenhüttenstadt. Zudem urteilte der Bundesgerichtshof, dass Verstöße gegen das Dublin-Abkommen kein Grund mehr für Abschiebehaft sind. Betroffen sind Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Staat Asylanträge gestellt haben und in diese zurückgeschickt werden können, wenn sie in Deutschland aufgegriffen werden. Janotta zufolge traf das auf 200 der 232 Häftlinge aus dem letzten Jahr zu: »Man muss dann fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist, diese Rechtsposition zu erhalten.«

Albrecht Engelmann weist derweil darauf hin, dass Migranten nicht nur aus der Haft heraus ins Ausland abgeschoben werden. Zahlen des Innenministeriums zufolge hätten 2013 rund 1200 Menschen den Freistaat verlassen müssen. »Sachsen schiebt sehr konsequent ab«, sagt Engelmann - der dafür politische Gründe sieht. Die rechtsextreme Szene übe erheblichen Druck aus - dem sich der Freistaat gewissermaßen beuge, sagt der Kirchenmann: »Man versucht, so wenig wie möglich angreifbar zu sein.«

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