Garantiert ohne Besserwisserei

Georg Fülberth offenbart den Gedankenreichtum und die Interpretationsvielfalt des Marxismus

  • Hermann Klenner
  • Lesedauer: 4 Min.

Er ist einer der Produktivsten unter den Schülern Wolfgang Abendroths, ein Charakterkopf und Kommunist dazu. Georg Fülberth ist außerdem mit der bei einem Wissenschaftler eher selten anzutreffenden Fähigkeit ausgerüstet, Kompliziertes knapp und klar sagen zu können. So auch im vorliegenden Fall.

Es ist seine Sache nicht, die Gesamtheit der Auffassungen von Karl Marx und Friedrich Engels in ihrer (angeblichen) Geschlossenheit und Folgerichtigkeit als »Marxismus« auszugeben, womit bei einem auf mehr als hundert Bände berechneten, in einem Zeitraum von fünfzig Jahren entwickelten Gedankenmaterial unterstellt wird, es sei mit einem Wort erfassbar und auf einen Begriff zu bringen. In dem hier zu referierenden Pamphlet wird gleich zu Beginn mitgeteilt, dass unter »Marxismus« lediglich verstanden werden soll: (a) eine historisch-materialistische Analyse von Ökonomie und Klassenverhältnissen, (b) eine auf diese Analyse gestützte Theorie der Politik und (c) eine politische Praxis mit der Perspektive einer Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft.

Natürlich wird im Verlauf der Darlegungen immer wieder auf Originaltexte von Marx und Engels zurückgegriffen; sie werden auch in angemessenem Umfang wörtlich zitiert. Aber sie werden nicht als Verkündungen gepriesen, sondern als rational nachvollziehbare Erkenntnisse präsentiert. Sie werden nicht als der Weisheit letzter Schluss, nicht als unantastbar ausgegeben, sondern als ebenso interpretationsfähig wie interpretationsbedürftig, zum Teil mit überraschenden Folgen. So bei dem seit Stephan Hermlins »Abendlicht« am häufigsten zitierten Satz des »Kommunistischen Manifests« - über die künftige Assoziation, in der die freie Entwicklung eines jeden die Voraussetzung für die freie Entwicklung aller ist. Fülberth meldet hier gar einen fünffachen Interpretationsbedarf an, der in der Forderung nach einer Trennungslinie zu den Deutungen von Liberalen gipfelt. Oder wenn der Autor die Marxsche Verwendung des Wortes »Kritik« (der Ökonomie) mit der von Immanuel Kant in dessen Kritik (der Vernunft) vergleicht, um Übereinstimmung wie Nichtübereinstimmung festzustellen.

Überhaupt verblüfft die Reichhaltigkeit der beigebrachten Gesichtspunkte, von denen nicht unbedingt ein jeder zum Basiswissen gehört. Aber Fülberth scheint die Vielfalt der zum Bereich des Marxismus gehörenden Probleme allemal wichtiger zu sein als die Einfalt von Dogmatikern, die sich kühn als Marxisten ausgeben. Er scheut auch nicht davor zurück, Fragen zu benennen, die von Marx und Engels zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich beantwortet oder von ihnen nicht abschließend geklärt wurden; ihr Werk sei ohnehin ein Torso geblieben. Und natürlich drückt Fülberth sich nicht um die mehr gescholtene als begriffene »Diktatur des Proletariats« herum.

Sein Einbeziehen der Gedanken von Bernstein, Kautsky, Hilferding, Bebel, Luxemburg, Bucharin und (besonders ausführlich) Lenin sowie von Stalin, Trotzki, Mao und Togliatti ist von einer soziologisch untermauerten Sachlichkeit geprägt. Und seine themenbezogenen Erwähnungen von Thalheimer, Brandler, (wiederum besonders ausführlich) Gramsci und Korsch (warum nicht Brecht?), Lukács, Sweezy, Mandel, Althusser, Balibar, Abendroth, Haug und Holz sind von jeglicher Besserwisserei verschont.

Fülberth geht es vor allem um eine dem Weltenlauf angemessene Bereicherung des Marxismus durch die Berücksichtigung vieler gesellschaftlicher Phänomene in ihrer gesamten Breite und Entwicklung. Anders als gewisse Transformationstheoretiker missversteht er pluralen Marxismus nicht als theoretische Prinzipienlosigkeit, denn die führe mit logischer Zwangsgewalt zu einer opportunistischen Bereitschaft zur Anpassung an die jeweils kleineren Übel, die von den Herrschenden nur zu gern den anderen durch Mittäterschaft auferlegt werden.

Ein geschlossenes (im Sinne von abgeschlossenes) Gedankensystem könne der Marxismus allerdings schon deshalb nicht sein, weil der von ihm behandelte Gegenstand, die kapitalistische Gesellschaft, (leider!) unabgeschlossen ist. Jedoch könne die durch eine Weiterentwicklung der Gesellschaft erzwungene Erweiterung des historisch-materialistischen Denkens nicht ohne einen Kernbestand der Überlegungen von Marx und Engels erfolgen.

Zu den Befunden des Marxismus, einer der zentralen Wirkungsmächte des 20. Jahrhunderts wie der mit ihrer Zukunft schwangeren Gegenwart, gehöre u. a. das Erkennen einer notwendigerweise weltweiten Durchsetzung des Kapitalismus, seiner Überakkumulation und unvermeidlichen Krisenhaftigkeit sowie der sich immer mehr zu Antagonismen entwickelnden Klassengegensätze innerhalb der Gesellschaft. Zu diesen Einsichten des Marxismus gehöre aber auch - so das glasklare Ergebnis einer bewundernswerten Abhandlung -, dass ein den Kapitalismus überwindendes Handeln erst in der Überreife dieser Produktions- und Lebensweise voll wirksam werden könne. Langer Atem ist gefragt. Nicht jedermanns Sache, bekanntlich.

Das beigegebene Literaturverzeichnis sollte bei künftigen Auflagen auch auf den Sachregisterband zu den Marx-Engels-Werken (MEW, Berlin 1989) verweisen, keinen Bogen um die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) machen und die wichtigsten Publikationen einschlägiger DDR-Marxisten nicht unberücksichtigt lassen. Ein Namensregister wäre hilfreich.

Georg Fülberth: Marxismus. Basiswissen. PapyRossa, Köln 2014. 110 S., br., 9,90 €.

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