Wie Greta Garbo, wenn sie schwimmt

Neues aus Venedig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Daran, dass es schon einmal so kalt war im Sommer in Venedig, kann ich mich nicht erinnern. Gewitter, Regen und Nordwind bestimmen die Tage. Die Sonne kämpft nur für Stunden erfolgreich dagegen an. Sonst brauchte ich in der hochsommerlichen Venedig-Waschküche immer ein Handtuch im Nacken, saß wie ein Boxer in der Pause zwischen zwei Kampfrunden da und versuchte, wenigstens den Computer trocken zu halten. Dieses Jahr aber brauche ich einen Pullover. Es fehlt nicht viel, und ich müsste doch noch die Betriebsanleitung für die Heizung auf Italienisch studieren, mit vorhersehbarem Ergebnis.

Es gibt Reisende, die suchen gerade das in Venedig: die Kälte! Joseph Brodsky etwa, der Russe aus New York, schreibt in »Ufer der Verlorenen«: »Jedenfalls würde ich nicht im Sommer hierherkommen, nicht einmal, wenn man mir ein Gewehr auf die Brust setzte.« Er kam dann auch - bis zu seinem Tod 1996 - regelmäßig im Winter hierher. Die Hitze vertrug er allein schon deshalb nicht, weil er schwer herzkrank war. Aber die Bevorzugung des Winters hat auch eine andere, eine poetische Seite. Denn im Winter werden die Venezianer auf wundersame Weise freundlich, vor allem bei Hochwasser. Anscheinend spüren sie das Versinken der Stadt und jeder Fremde ist plötzlich ein potenzieller Retter.

Im vergangenen Winter zog ich mit meinen Fotoapparat durch das neblig graue Venedig. Und traf dabei eine besondere Spezies: Mittvierziger, die ebenso wie ich allein mit ihren Fotoapparaten durch die Gassen streiften. Man sah sofort, dass sie nicht auf der Suche nach einem touristischen Schnappschuss waren. Alle jagten sie hier einem Bild hinterher, das diese längst totfotografierte Stadt bisher nicht preisgegeben hat - obwohl es für jedermann daliegt, nicht verborgen, sondern an der Oberfläche.

Wäre es nicht allzu kokett, könnte man von einem Zug der Steppenwölfe sprechen, die, statt Hermann Hesse zu lesen, sich von ihrer Familie eine Woche Urlaub erbeten haben, um dem Prinzip »Nicht für jedermann« noch einmal mit aller - und sei es geborgten - restjugendlichen Naivität zu folgen.

Venedig ist ein tausendjähriges magisches Theater! Und außerdem der Ort, wo man sich als Nichtautofahrer nicht gleich minderwertig fühlen muss. Illusion ist alles, manchmal wenigstens. Noch der größte Skeptiker braucht für seine Weltverachtung ein sicheres Hinterland. Aber geht die Insel Venedig überhaupt unter? Es ist wie mit den unaufhörlich steigenden Immobilienpreisen und den hektischen Bauarbeiten an allen Ecken der Stadt - wer investiert, lebt am längsten.

Es ist diese marktkonforme Weltanschauung, vor der die Mittvierziger auf ihren einsamen Fototouren durch Venedig auf der Flucht sind. Aber auf irgendeine Weise bleiben sie dennoch darin gefangen. Das vereint sie im unglücklichen Bewusstsein: Es kann irrsinnig sein, aber noch wollen wir nicht ans Ende denken, noch liegt das meiste vor uns! In Venedig fällt es leichter, sich zu betrügen, weil hier der schöne Schein bewiesen hat, dass er langlebig zu sein vermag.

Joseph Brodsky ist der unangefochtene Meister unter den Venedig-im-Winter-Erzählern. Er hat Venedig gegenüber allerdings auch den fatalen Du-Ton aufgebracht, der nun so viele harmlose Fortsetzer im Reise-Wellness-Metier gefunden hat. Brodsky aber hat alles andere im Sinn als angenehme Vorstellungen beim Leser zu erzeugen. Das Herz muss kühl sein, wenn es sich gelegentlich für etwas erwärmen soll. Aber doch nicht gleich die Füße! So ging er mit Wollsocken ins Bett und suchte den größtmöglichen Abstand zur Kälte verströmenden Wand.

Heizungen haben in Italien ohnehin immer etwas von bloßem Ornament an sich, man sieht sie, aber spürt sie nicht. Vielleicht haben die Italiener im Sommer so viel Hitze gespeichert, dass sie nun die Winterkühle genießen - jedenfalls betteln immer nur Ausländer an Hotelrezeptionen um zusätzliche Decken, die es niemals gibt. Und so lautet dann auch Brodskys resigniertes Fazit: »Nur Alkohol kann den Polarblitz auffangen, der durch den Körper fährt, sobald du den Fuß auf den Marmorboden setzt, ob du Pantoffeln, Schuhe oder nichts anhast.«

Im Winter wohnt man in Venedig am besten in jenen Hotels, die im Sommer unbezahlbar sind. Eine Woche reicht dann, um die Probe auf den Satz von Brodsky zu machen: »Schönheit bei niedrigen Temperaturen ist Schönheit.« Aber jetzt ist, wenigstens nominell, noch Sommer. Jeden Abend gehe ich von der Vaporetto-Station des Lido quer über die schmale Landzunge zum öffentlichen Badestrand an der Adria hinüber, der selbst kurz vor Sonnenuntergang noch überfüllt ist, während die überteuerten Badeanstalten mit ihren merkwürdigen Holzhütten, die in mehreren Reihen hintereinander gebaut sind, jedes Jahr leerer zu werden scheinen.

Das Wasser am Lido ist meist alles andere als klar und sauber. Abends im Meer zu baden, ist eigentlich auch ziemlich unklug. Denn trübes Wasser und Dämmerung, das sind Ort und Zeit, wo sich hungrige Haie einfinden, hat mich Hans Hass einmal gewarnt - und der war bekanntlich ein Freund der Fische. Aber die anderen gehen auch alle hinein, das sollte das Risiko für den Einzelnen vermindern. Mit dieser Logik sind schon Kriege geführt worden. Ab und zu schreit jemand laut auf, dann ist er gegen eine Feuerqualle gestoßen, die hier dicht an dicht herumschwimmen. Man muss sie ignorieren, wie Brennnesseln am Wegrand.

Auf dem Weg zum Baden komme ich auch an meinem Hotel des letzten Winters vorbei, dem »Grande Albergo Ausonia & Hungaria«. Bis auf kleine Geschmacksverbrechen durch eine Renovierung ist es immer noch als Jugendstilhotel erkennbar. Das Hotel hält als eines der wenigen auf dem Lido den Winter über offen, denn es gibt im Keller asiatische Blütenbäder und Massagen. Das einstige Kurhotel lässt sich auch an den zahlreichen Uhren in allen Aufenthaltsräumen erkennen - der Gast fühlt sich hier ein wenig wie ein Bahnreisender, wenn auch erster Klasse.

Mein schönes Eckzimmer offenbarte allerdings eine geradezu okkulte Eigenschaft, bei der ich an den raunenden Venedig-Magier Uri Geller denken musste, der gewiss sofort schreiend davongelaufen wäre. Ich blieb, aber es war tatsächlich unheimlich. Denn schon als ich das Zimmer zum ersten Mal betrat, brannte die Lampe neben dem Bett. Auf Schalterdruck reagierte sie nicht und das Kabel, das nicht in einer Steckdose, sondern in der Wand verschwand, einfach herauszureißen, wäre gewiss zu Recht als Sachbeschädigung aufgefasst worden. Ein ewiges Licht wie auf dem Friedhof?! Man könnte die Birne ganz herausdrehen, überlegte ich, aber dann wäre es des Nachts auch ganz dunkel. Ein Licht auf dem Nachttisch ist schon von Vorteil, es muss ja nicht gleich ein ewiges sein.

Doch man lernt schnell, wenn man muss. Also entwickelte ich die Technik, blitzschnell in die Lampe hineinzugreifen und die heiße Glühbirne eine Winzigkeit zu drehen: Dunkel. Nachts der umgekehrte Weg, ein entschlossener Griff, leichte Drehung: Licht.

Aber wir waren bei Joseph Brodsky. Als ich diesmal, wie jedes Jahr, auf die Friedhofsinsel San Michele fahre, bin ich irritiert. Überall Baukräne, ein Betonbau mit vielen winzigen Räumen wächst gleich hinter dem kleinen, ewig verwilderten evangelischen Teil des Friedhofs empor: ein Columbarium. Hier, mitten im Baulärm, steht sehr aufrecht der leuchtend helle Grabstein von Joseph Brodsky. Viele andere liegen halb oder ganz umgestürzt, eine Folge des letzten Hochwassers.

Brodsky hat die anstrengende, dabei immer auch oberflächliche, selbstverliebte und - auch das - schmuddelige Diva Venedig beharrlich ihren Verächtern zu erklären versucht. Sie sei »wie Greta Garbo, wenn sie schwimmt«. Die Göttliche, die Geheimnisvolle, plötzlich auch ein bisschen lächerlich? Ein bisschen bestimmt.

dasnd.de/venedig

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